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Ausgabe:

Oktober/2013

Spalte:

1071–1073

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

La Sala, Beate Ulrike

Titel/Untertitel:

Hermann Cohens Spinoza-Rezeption.

Verlag:

Freiburg u. a.: Karl Alber Verlag 2012. 338 S. = Alber Thesen Philosophie, 50. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-495-48544-6.

Rezensent:

Myriam Bienenstock

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Adelmann, Dieter: »Reinige dein Denken«. Über den jüdischen Hintergrund der Philosophie von Hermann Cohen. Aus d. Nachlass hrsg., ergänzt u. m. e. einleitenden Vorwort versehen v. G. K. Hasselhoff. Würzburg: Königshausen & Neumann 2010. 351 S. Kart. EUR 39,80. ISBN 978-3-8260-4301-7.


Für sein Projekt eines Aufsatzbandes, welcher die Hauptlinien seiner Forschung kohärent darstellen würde, hatte Dieter Adelmann vor seinem Tod im Jahre 2008 mehrere Titel erwogen. Aus diesen Titeln wählte sein Freund und Herausgeber Görge K. Hasselhoff nicht einfach den deskriptiven »Hermann Cohens Philosophie, dargestellt im jüdischen Kontext«, sondern einen viel beredteren »Reinige dein Denken«, einen Titel, welcher auf eine Sentenz aus Arnold Schönbergs Oper Moses und Aron anspielt: »Reinige dein Denken, lös es vom Wertlosen, weihe es Wahrem«, habe Moses zu Aaron gesagt – und noch gezielter: »reinige dein Denken von den Bildern«. So wurde für den Band eine thematische Einheit gefunden, welche zum einen den ersten Hauptteil des Bandes, »Musikalisches«, der die Bedeutung der Musik für Hermann Cohen, insbesondere im Gebet, verdeutlicht, zweitens aber Cohens »Begriff« der Philosophie in den Vordergrund rückt, und zwar nicht nur weil dieser Begriff einen »kantoralen Hintergrund« hätte. »Du sollst Dir kein Bildnis machen, noch irgendein Gleichnis, weder dessen was im Himmel, noch auf der Erden, noch unter der Erden ist« […]. Cohens Lehre »fühlte die Erhabenheit dieses Wortes ganz – denn auch seine Lehre ruht auf einem völlig unsinnlichen und unbildlichen Grunde«, so hatte sich schon Ernst Cassirer am 7. April 1918 am Grab seines Lehrers ausgedrückt (vgl. H. Holzhey, Hermann Cohen, Frankfurt a. M. 1994, 70). Von dieser Überzeugung sind auch Dieter Adelmanns Forschungen zu Cohen stets getragen. Adelmann zufolge sei der althebräische Kampf gegen die Götterbilder, den Cohen in seinem posthumen Werk Religion der Vernunft ausführlich erörtert, auch für die Philosophie Cohens maßgebend gewesen, und zwar vom Anfang an. Die These eines Bruchs in Cohens Werk nach seiner Emeritierung im Jahre 1912 und einer danach einsetzenden »Rückkehr« zum Judentum – eine These, die sich anknüpfend an Franz Rosenzweigs »Einleitung« in Cohens Jüdische Schriften verbreitet hat – hielt Dieter Adelmann für ganz irreführend. Wie dies Görge K. Hasselhoff in seinem Vorwort ganz richtig betont, bemühte er sich zu zeigen, dass der »jüdische Zug« eine »Konstante in Cohens Philosophie« geblieben sei. »Jüdische Voraussetzungen« glaubte Adelmann sogar im frühen (1871) Beitrag Cohens »zur Kontroverse zwischen Adolf Trendelenburg und Kuno Fischer« gefunden zu haben (15–27)! Mag dieser Befund etwas zu weit gehen, scheint mir dennoch die Hauptlinie seines Arguments vollständig richtig zu sein.
In dem hier besprochenen Band sind viele der gelehrten Aufsätze Adelmanns über Cohens Denkweg gesammelt. Darin wird man auch äußerst ergiebige Fallstudien finden, Studien, welche Figuren, mit denen Cohen in Kontakt gestanden hat, gewidmet sind: H. Steinthal, Leopold Lucas, Wilhelm Bacher, Benzion Kellermann, Moritz Güdemann … Dieter Adelmann hatte schon seine Doktorarbeit Hermann Cohen gewidmet. Betitelt »Einheit des Bewusstseins als Grundproblem der Philosophie Hermann Cohens«, ent hielt sie eine »vorbereitende Untersuchung für eine historisch-verifizierende Konfrontation der Fundamentalontologie Martin Heideggers mit Hermann Cohens ›System der Philosophie‹« – heute ist dank der unerlässlichen Mühe von Görge K. Hasselhoff und Beate Ulrike La Sala auch die Originalfassung dieser ganz wichti-gen Arbeit endlich allen zugänglich (Einheit des Bewusstseins als Grundproblem der Philosophie Hermann Cohens. Vorbereitende Untersuchung für eine historisch-verifizierende Konfrontation der Fundamentalontologie Martin Heideggers mit Hermann Co­hens »System der Philosophie«. Hrsg. von Görge K. Hasselhoff und Beate Ulrike La Sala. Potsdam 2012 [Schriften aus dem Nachlass von Dieter Adelmann 1]). Trotz der Verteidigung seiner Dissertation sollte Adelmann nicht zur Habilitation und Professur gelangen. Dennoch darf er – mit vollem Recht – als einer der besten Kenner des deutsch-jüdischen Kontexts gelten, in welchem Cohen sein Denken und seine Wirksamkeit entfaltete. Im vorliegenden Band kommen seine gediegenen Kenntnisse gut zum Vorschein. Es ist Dieter Adelmann nämlich gelungen, Cohens »Religion der Vernunft« in ihrem angemessenen Kontext, demjenigen der »Wissenschaft des Judentums«, wieder richtig zu verorten und diese wichtige Strömung der deutsch-jüdischen Geistesgeschichte ins rechte Licht zu rücken: Zornig kritisierte Adelmann die Strategie Franz Rosenzweigs, welcher die Beziehung der »Religion der Vernunft« zur »Wissenschaft des Judentums« absichtlich ausgeblendet habe (vgl. 281) – auch wenn er selber ganz gut wusste (vgl. 203 f.), dass Rosenzweig keineswegs der Einzige gewesen ist, der eine schiefe Darstellung dieser Strömung befördert hatte. Zeit wäre es, die zahlreichen, richtigen Anregungen Adelmanns zu Forschungen über den systematischen und historischen Kontext der »Wissenschaft des Judentums« (151–190), weiterzuverfolgen. Dass Leopold Zunz selber, der Schöpfer der »Wissenschaft des Judentums«, in dieser Wissenschaft ein Mittel »zur Erhaltung des vom Ghetto befreiten, in die moderne Kultur einbezogenen Judentums« gesehen hat, wurde schon von Ismar Elbogen gezeigt und verdient, heute hervorgehoben zu werden, sei es auch nur als Gegengewicht zur angeb­lichen Behauptung Moritz Steinschneiders, der zufolge die Wissenschaft des Judentums das Ziel verfolgt hätte, irgendwelchen Überresten des Judentums ein »ehrenvolles Begräbnis« zu besorgen.
Besonders lehrreich erscheinen in diesem Zusammenhang die Bemerkungen zu Manuel Joel (1826–1890), jenem »prononcierten Vertreter des jüdischen Kantianismus« (23), den Adelmann »in die Mitte der Wissenschaft des Judentums« stellte (108). Die in diesem Bande vereinigten Aufsätze behandeln Joels Wirksamkeit im Be­reich der Homiletik und Liturgik und seine Kritik am zeitgenössischen Antisemitismus sowie auch seine religionsphilosophischen Forschungen, welche – Adelmann zufolge – sehr einflussreich ge­wesen sind: »bis in den Umkreis der Kulturkritik von Friedrich Nietzsche« (117) hätten einige seiner Schriften gereicht! Wenn eine Untersuchung von Joels Auseinandersetzung mit Spinoza fehlt, so vermutlich deshalb, weil Adelmann diesem Thema anderswo viel Aufmerksamkeit schenkte (vgl. seinen Artikel im Lexikon jüdischer Philosophen, hrsg. von Andreas B. Kilcher u. a., Stuttgart 2003, 260–262). Davon handelt aber auch einer der richtungsweisenden und wohl innovativsten Teile der Dissertation von Beate Ulrike La Sala.
Diese in Berlin unter der Leitung von Wilhelm Schmidt-Biggemann entstandene Arbeit behandelt das Thema »Hermann Cohens Spinoza-Rezeption«. Mit einer ausführlichen Darstellung von Spinozas Behandlung des Judentums im Tractatus Theologico-Politicus beginnend (Kapitel I), auch »Kants religionsphilosophischem Ansatz« Rechnung tragend (Kapitel II), widmet die Vfn. folgerichtig das dritte Kapitel ihrer Arbeit der »Spinozainterpretation von Ma­nuel Joel«. Mit Recht bemerkt sie, dass Joels Spinozadeutung bis heute kaum ausgewertet wurde: Außer denjenigen von Adelmann selber und auch von G. Hasselhoff finden sich in der zeitgenös­sischen Sekundärliteratur nur ganz wenige Studien zu Joels philosophischen Ansatz und seiner Vorgehensweise. Die Vfn. stellt fest, dass Joel »Spinoza gegenüber einen grundsätzlich positiven Standpunkt einnimmt« (117) und den Autor des TTP als Begründer der modernen Bibelexegese würdigt, dass er selber aber an einer Vereinbarkeit von traditionellen jüdischen Lehren und philosophischen Einsichten festhalten und die Trennung von Theologie und Philosophie, die Spinoza vertreten hätte, keineswegs annehmen wollte. Ihm war auch Spinozas Ablehnung der jüdischen Zeremonialgesetze zuwider, und er war der Meinung, dass Spinoza in seiner Behandlung des Judentums »die Grenzen des Zulässigen« überschritten habe (118): Die Bemerkungen Spinozas über den »Hass aller Völker, den sich die Juden aufgeladen« hätten und der sie als solche erhielte, seine eigenartige Lesart des Psalms 139, 21 f. (in Ka­pitel XVII), der zufolge die Juden auch den »stärksten Hass« gegen ihre Feinde für fromm gehalten hätten, hielt Joel »eines Spinoza un­würdig« (vgl. 121). Gegen die spinozistische Kritik eines inhärenten Anti-Universalismus nahm er die hebräischen Propheten in Schutz.
Bei Joel handelte es sich also um eine indirekte Argumentation für einen jüdischen Universalismus – ganz in der Tradition der jüdischen Aufklärung. Dies führt die Vfn. zu dem Schluss, dass sich Cohen in seiner Spinoza-Rezeption auf Joels Diskussionen stützte. Diese Vermutung scheint plausibel, insbesondere im Hinblick auf Cohens frühen Heine-Aufsatz (1867), welcher – wie dies die Vfn. ganz richtig betont (Kapitel 5) – eine »Rehabilitierung Spinozas« und seines »Pantheismus« beinhaltet. Bedauerlich finde ich es aber, dass die Vfn. den »springenden Punkt« der Spinoza-Lektüre des jungen Cohen – das »Du sollst Dir kein Bildnis machen […]«, also das Bilderverbot, welches gerade auch in der Cohen-Lektüre Dieter Adelmanns zentral war – beiseitegelassen hat (vgl. darüber meinen Aufsatz »Hermann Cohens Heine und der Kampf um Spinoza«, in: Heine-Jahrbuch 2010, 192–200), denn eher als die Vorstellung einer Universalreligion, die von der Vfn. betont wird, scheint mir die Op­position zum Anthropomorphismus dasjenige Merkmal zu sein, das den jungen Cohen merkwürdig nah zu Spinoza gebracht hatte. Dieser »springende Punkt« mag im Hinblick auf die Wut des älteren Cohen über die Herabsetzung der jüdischen Religion im TTP nicht alles, aber doch einiges erklären. Noch heute behält diese spätere, gewaltige Opposition zu Spinoza einiges Rätselhafte – was die Lektüre der ausführlichen Arbeit der Vfn. noch anregender und gewinnbringender macht.
Um eine angemessene Beurteilung der Thesen La Salas zum Verhältnis von Cohen zu Joel zu ermöglichen, ist noch daran zu erinnern, dass Cohen von 1857 bis 1861 am Breslauer Seminar studierte, wo Joel lehrte. Auch dürfte Cohen, der danach noch bis 1864 als Student an der Universität in Breslau blieb, in diesen Jahren (1861–1864) ebenfalls noch mannigfaltige Kontakte zum Breslauer Se­minar gepflegt haben. In seiner persönlichen Bibliothek befanden sich zudem zentrale Werke Joels, darunter auch einige, die sich mit Spinoza befassten. Die Fragen, ob, wann und wie intensiv sich Cohen mit Joels Deutungen Spinozas auseinandersetzte, sind also durchaus angebracht. Allerdings hat Joel diejenigen Schriften, die er Spinozas TTP widmete, erst nach Cohens Breslauer Jahren verfasst und in Cohens Schriften finden sich, soweit ich weiß, keine Be­lege dafür, dass Cohen Joels spätere Arbeiten herangezogen hätte.
Abschließend sei noch einmal betont, wie verdienstvoll es ist, dass Adelmanns wichtige, oft verstreut erschienene Studien jetzt nicht nur leichter, sondern endlich auch sozusagen »gebündelt« zugänglich sind. Dafür ist G. Hasselhoff zu danken. Wie inspirierend Adelmanns Arbeiten weiterhin sein können, beweist auch die gelungene Dissertation von Frau La Sala, die viele seiner Anregungen konstruktiv weiterverfolgt.