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Ausgabe:

Mai/1999

Spalte:

506–508

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Wolde, Ellen van [Ed.]:

Titel/Untertitel:

Narrative Syntax and the Hebrew Bible. Papers of the Tilburg Conference 1996.

Verlag:

Leiden-New York: de Gruyter 1997. X, 269 S. gr.8 = Biblical Interpretation Series, 29. Lw. hfl. 153.-. ISBN 90-04-10787-8.

Rezensent:

Uwe F. W. Bauer

Die Konferenz, die 1996 in Tilburg standfand, ist Ausdruck eines in den letzten zwanzig Jahren gestiegenen Interesses an der Textlinguistik des prosaischen biblischen Hebräisch. Ein entscheidender Faktor, der diese Entwicklung verursachte, ist die Tatsache, daß traditionelle hebräische Grammatiken nicht über den Satz als größte zu beschreibende sprachliche Einheit hinausgehen. - Ich gebrauche hier die Bezeichnung Textlinguistik, unter der ich eine auf die innere Struktur der Sprache bezogene Wissenschaft verstehe, die sprachliche Regularitäten auf der Ebene des Textes untersucht. Eine solche terminologische Festlegung erscheint notwendig, weil in diesem relativ neuen Forschungsgebiet - neu jedenfalls bezüglich des biblischen Hebräisch - naturgemäß noch eine uneinheitliche Terminologie vorherrscht (deutsch [eur.]: Textlinguistik/Textgrammatik; amerik.: discourse analysis/discourse grammar/text linguistics/ text grammar/narrative syntax).

Das Buch - als Konferenzbericht pluralistischer Ansätze konzipiert - enthält neben der Einleitung zwei Einleitungs- und fünf Hauptartikel; mit letzteren gehen fünf Workshopberichte zu Ex 19-24 bzw. 1Sam 1 einher (auf die ich nur eingehe, sofern sie substantiell weiterführende Überlegungen enthalten) sowie eine Bibliographie und ein Index der behandelten Stellen und angesprochenen Autoren.

Christo H. J. van der Merwe geht in seinem Einleitungsartikel An Overview of Hebrew Narrative Syntax (1-20) davon aus, daß verschiedene Faktoren zu dem erwachten Interesse an der Textlinguistik geführt hätten, und zwar der Einfluß der modernen Linguistik, die Zunahme textzentrierter Exegesen und Bewegung im Bereich der Bibelübersetzung auf seiten der Hebraisten sowie ein Paradigmawechsel von der historischen zur strukturalistischen Linguistik und von der theoretischen Grammatik zum Sprachbenutzer auf seiten der Sprachwissenschaftler. Bezüglich der hebräischen Prosa konzentriere sich die Diskussion auf das System der Verben. Nach einer kurzen Skizze traditioneller Lösungen läßt v. d. M. Ansätze Revue passieren, die das Verbsystem im Text statt im Satz beschreiben: Auslöser dieser Ansätze sei Harald Weinrichs Buch Tempus: besprochene und erzählte Welt gewesen (Sprechhaltung: besprechende oder erzählte Rede, mit je eigenem Verbsystem; Sprechperspektive: Null, nachgeholte oder vorweggenommene Information; Reliefgebung: Vorder- oder Hintergrund); darauf baue Wolfgang Schneider -> Alviero Niccacci -> Eep Talstra auf; zu nennen seien auch M. Eskhult, Y. Endo und Jan Joosten.

Ellen van Wolde setzt in ihrem Einleitungsartikel Linguistic Motivation and Biblical Exegesis (21-50) mit der Feststellung ein, daß linguistische Studien in der Regel danach fragen, wie ein Autor eine bestimmte Verbform oder eine bestimmte Reihenfolge von Sätzen benutzt, und entscheidet sich selbst dafür, pragmatisch nach dem weshalb dieses Gebrauchs zu fragen; ihr Ziel ist es, die Relevanz dieser linguistischen Fragestellung für die biblische Exegese aufzuzeigen. Ausgangspunkt ist Roman Jakobsons Theorie der Markiertheit und des Ikonismus. Sie nutzt nun diese Theorien, um die Phänomene der Sprechhaltung, der Reliefgebung und der Sprechperspektive linguistisch zu erklären, die Steuerung des ganzen Systems durch den Gebrauch der Verbformen und die Wortstellung aufzuzeigen sowie die Lenkung des Lesers/der Leserin zu verdeutlichen - letzteres ist zugleich die Antwort auf die textpragmatische Ausgangsfrage nach dem weshalb. Zum Schluß erläutert v. W. ihre Ausführungen kurz an Gen 28,12-13.

Jan Joostens Beitrag The Indicative System of the Biblical Hebrew Verb and its Literary Exploitation (51-71) ist von Vorbehalten gegenüber einer Analyse des hebräischen Verbsystems auf der Ebene des Textes statt des Satzes geprägt. J. knüpft erstens an die Theorie von Emile Benveniste an, derzufolge es Stufen der linguistischen Analyse gebe (Phonem -> Morphem -> Wort -> Satz -> Text) und eine linguistische Einheit der Form nach durch die Beziehung zu Elementen der gleichen Stufe bestimmt sei, der Bedeutung nach jedoch durch die Beziehung zur nächst höheren Stufe. Er zieht daraus die Konsequenz, daß Verben als Elemente der Wortstufe ihre Bedeutung im wesentlichen auf der Stufe des Satzes haben und nicht auf der des Textes. Folgerichtig analysiert er zweitens das Verbsystem auf der Ebene des Satzes. Ergebnis ist u. a., daß der Hauptgegensatz nicht zwischen der Präfix- und der Suffix-Konjugation bestehe, daß das Partizip ein vollgültiges Tempus (Präsens) sei und daß das indikativische Subsystem (wajjiqtol, qatal, Partizip) von drei Hauptgegensätzen geprägt sei: a) wajjiqtol <-> qatal u. Partizip, b) (im Präs.) qatal <-> Partizip, c) Subjekt-Partizip <-> Partizip-Subjekt. Drittens stellt J. zwar eine gewisse Durchlässigkeit des auf den Satz beschränken Verbsystems in Richtung Text fest (Linie Weinrich-Niccacci), hält jedoch die Satzstruktur für die eigentlich relevante linguistische Einheit auf der Ebene des Textes. Im Workshop (72-83) spricht er zusätzlich von der kontextuellen Polysemie der Verbform im Text, d. h., daß eine Verbform in einem Text mehr Bedeutungen haben kann, als irgendeine Theorie zu beschreiben in der Lage wäre.

Eep Talstra stellt sich in seinem Beitrag A Hierarchy of Clauses in Biblical Hebrew Narrative (85-118) die Aufgabe, mit Hilfe von computerunterstützten Analyseverfahren nachzuweisen, daß die Satzstruktur narrativer hebräischer Texte hierarchisch ist. Die in diesem Zusammenhang benutzte Zeichensprache ist mir jedoch trotz der Erläuterungen, die T. gibt, nur bis zu einem gewissen Grad nachvollziehbar, so daß ich auf Einzelheiten der Analyse selbst nicht eingehen kann. T. kommt jedenfalls zu dem Ergebnis, daß narrative Texte hinsichtlich der Sätze und der Absätze hierarchisch organisiert sind. Die traditionelle Sicht der im wesentlichen parataktischen Organisation der Sätze in narrativen hebräischen Texten sei aufzugeben.

Van der Merve ist in seinem zweiten Beitrag A Critical Analysis of Narrative Syntactic Approaches, with Special Attention to their Relationship to Discourse Analysis (133-156) zunächst bemüht, die von Talstra, Weinrich, Niccacci, Endo, Joosten und Eskhult für die "Textlinguistik" verwendete Terminologie (s. o.) und die damit verbundenen Implikationen zu klären, kommt dann auf Entwicklungen innerhalb der Linguistik im allgemeinen (USA/Europa) zu sprechen, insbesondere auf die Tagmemik, und skizziert den Ansatz von R. E. Longacre. Sowohl die Ansätze der genannten Personen (Talstra usw.) als auch der von Longacre seien in zweifacher Hinsicht unzulänglich: Sie übertrügen die Methoden und Kategorien der Satzgrammatik in problematischer Weise auf den Text, und sie analysierten im wesentlichen nur die durch den linguistischen Code signalisierte Information (Code-Modell der Kommunikation). Angesichts der skizzierten Entwicklungen innerhalb der Linguistik im allgemeinen ergäben sich als Konsequenzen 1. Warnungen (z. B. vor einer einlinigen Erklärung von Texten, wie etwa durch Niccaccis Konzentration auf das Verbsystem), 2. Bestätigungen (z. B. des Ansatzes von Talstra) sowie 3. neue Perspektiven (z. B. die Analyse der Rolle einiger Partikel in ihrer Funktion, Beziehungen zwischen "the conceptual worlds of participants in a communication process" [150] zu begründen und/oder zu zeigen). V. d. M.s abschließende Forderung lautet, die Textlinguistik des biblischen Hebräisch als Erforschung des Sprachgebrauchs, d. h. eines komplexen menschlichen Kommunikationsgeschehens, zu konzipieren.

Alviero Niccacci faßt in seinem Beitrag Basic Facts and Theory of the Biblical Hebrew Verb System in Prose (167-202) die Grundprinzipien seiner an anderer Stelle mehrfach ausgeführten textlinguistischen Theorie zusammen, mit der er den Ansatz von Weinrich-Schneider konsequent weiterführt. Sie hier im einzelnen auszuführen, ist nicht möglich.

Takamitsu Muraoka widmet sich in seinem Beitrag The Alleged Final Function of the Biblical Hebrew Syntagm a Volitive Verb Form> (229-241) dem meist final verstandenen Syntagma: einfaches w + volitive Verbform der Präfix-Konjugation und vertritt die These, das Syntagma sei multiinterpretativ; ausschlaggebend für die Interpretation seien letztlich pragmatische und ästhetische Aspekte; letzteres zeige, daß bestimmte Phänomene hebräischer Syntax im Rahmen der Textlinguistik nicht mehr auf sinnvolle Weise diskutiert werden könnten.

Der von E. van Wolde herausgegebene Sammelband gibt einen guten Überblick über den Stand der kontroversen Diskussion in bezug auf die Textlinguistik biblisch-hebräischer Prosa und ist empfehlenswert. - Van der Merves Einleitungsartikel, in dem er einen Überblick über "Hebrew Narrative Syntax" geben möchte, hält, was er verspricht. Für Neueinsteiger in die Thematik ist dieser Beitrag die richtige Wahl. - Im Vergleich zu van der Merves Beitrag ist van Woldes Einleitungsartikel spezieller ausgerichtet, weil sie Jakobsons Theorie der Markiertheit und des Ikonismus als linguistische Referenz wählt. Die Relevanz der Linguistik bzw. der Pragmatik für die Interpretation biblischer Texte wird zwar deutlich, gegenüber dem Ansatz von Weinrich-Schneider ergibt sich jedoch im Grunde wenig Neues.

Bezüglich der textlinguistischen Fragestellung sind die fünf Hauptartikel von ganz unterschiedlichem Gewicht: Muraokas Beitrag kommt in dem Sinn negative Bedeutung zu, als er nur die Grenzen der textlinguistischen Fragestellung aufzeigt. - Ähnlich verhält es sich mit Joostens Beitrag, der sich in bezug auf das Verbsystem im wesentlichen auf den Satz beschränkt, jedoch die textlinguistische Bedeutung des Gebrauchs unterschiedlicher Satztypen verdeutlicht. Für bemerkenswert halte ich seine Analyse der Funktion des Partizips im Tempussystem und in der Syntax. - Talstras Beitrag zur Hierarchie der Sätze im Text wäre in textlinguistischer Sicht sicher gewinnbringend, würde seine Lesbarkeit wegen der apokryphen Zeichensprache nicht beeinträchtigt. - Van der Merve zeigt die Begrenztheit der bisherigen textlinguistischen Versuche hinsichtlich des biblischen Hebräisch auf - jedoch in einem ganz anderen Sinne als Muraoka -, indem er eine über die bisherigen Ansätze weit hinausgehende Textlinguistik fordert, die biblisches Hebräisch unter dem Aspekt des Sprachgebrauchs als umfassenden menschlichen Kommunikationsprozeß analysiert. Leider bleibt van der Merve jedoch jegliche Konkretion schuldig. - Niccaccis Beitrag ist der im Sinne der Fragestellung wichtigste, denn er bietet die Grundprinzipien eines voll ausgearbeiteten und zugleich konkreten Systems der Analyse hebräischer Prosa, basierend auf der Unterscheidung von verbalen und nominalen Sätzen sowie erzählter und besprechender Rede einschließlich der jeweils spezifischen Funktion der Verben.

Im Gegensatz zu manchen seiner Veröffentlichungen aus der ersten Hälfte der neunziger Jahre hat Niccacci eine verständlichere Terminologie benutzt und seine Definitionen präzisiert (z. B. bezüglich dessen, was das Element x im x-V Satz genau meint, S. 167, Anm. 1; unbefriedigend bleibt jedoch die Definition von "Aspekt", S. 181, Z. 11 f. u. Anm. 36). Die gegenüber der Textlinguistik geäußerte Kritik einiger Mitarbeiter dieses Sammelbandes aufnehmend, wäre jedoch zu fragen, ob ein umfassendes und in sich geschlossenes System der textlinguistischen Analyse hebräischer Prosa der Diversität der hebräischen Sprache bzw. des Sprachgebrauchs wirklich gerecht zu werden vermag.