Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/1999

Spalte:

501–503

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Krüger, Thomas

Titel/Untertitel:

Kritische Weisheit. Studien zur weisheitlichen Traditionskritik im Alten Testament.

Verlag:

Zürich: Pano 1997. VIII, 230 S. 8. Kart. DM 20,-. ISBN 3-9520323-7-9.

Rezensent:

Gerlinde Baumann

Der in Zürich lehrende Alttestamentler Thomas Krüger legt mit der "Kritischen Weisheit" sein zweites Buch vor. Die Sammlung von elf Beiträgen aus den Jahren 1991-1997 beinhaltet neben einer bisher unveröffentlichten Predigt zehn Aufsätze, die bereits an anderer Stellen publiziert sind und unverändert abgedruckt werden.1 Der Band erscheint in dem noch jungen Zürcher Pano-Verlag in einfacher Ausstattung, aber mit Vorwort und Bibelstellenregister.

Im knapp vierseitigen Vorwort erläutert K. Absicht und These des Bandes, die im Titel zum Ausdruck kommen. Der Autor entwirft ein Verständnis von "Weisheit" im Alten Testament, das er von der bisherigen Sicht der Forschung abgrenzt. Diese "Weisheit" untersucht er überwiegend anhand des Qoheletbuches. Sie setzt sich, so K.s These, wesentlich stärker als bisher gesehen mit theologischen Konzepten und Traditionen außerhalb des weisheitlichen Denkens auseinander, so z. B. mit dem selbstwirksamen JHWH-Wort, der Tora oder prophetisch-eschatologischen Vorstellungen. Diese und andere theologische Konzepte werden aus weisheitlicher Perspektive in differenzierter Weise kritisiert, rezipiert und integriert. In dieser Fähigkeit zur Auseinandersetzung liegt nach Meinung des Autors die Stärke dieser "kritischen Weisheit".

Die Aufsatzsammlung beginnt mit zwei Beiträgen zu ethischen Themen. Als "Lehrstück ethischer Reflexion" gilt dem Autor Gen 38. Anhand der Erzählung von Juda und Tamar arbeitet er heraus, wie differenziert eine solche komplexe ethische Problemlage im nachexilischen Israel angegangen werden kann. Dem Tötungsverbot des Dekalogs widmet sich der zweite Beitrag, der den Schwerpunkt auf die inneralttestamentliche Auseinandersetzung mit der Tradition setzt. Solche "Kritik" führt zur Unterscheidung und spannungsvollen Zuordnung von Ethik und Recht im Alten Testament.

Die folgenden acht Beiträge des Buches (Kap. III-X) zeichnen sich durch ein Interesse an Fragen der Entstehung und Redaktion alttestamentlicher Texte aus. Das methodische Instrumentarium des Autors ist dabei recht breit. Im Beitrag zum literarischen Wachstum und der theologischen Diskussion im Jona-Buch (III) liegt der methodische Schwerpunkt auf der Literarkritik. Die herausgearbeitete weisheitliche Grundschicht des Jonabuches sowie zwei spätere Bearbeitungen werden am Schluß im Blick auf das JHWH-Bild ins Gespräch gebracht. Der Aufsatz zu Ps 90 (IV) basiert auf detaillierten Sprachuntersuchungen. Daneben werden Ergebnisse zum Aufbau des Psalters fruchtbar gemacht, die zu einer Interpretation des Textes führen, in deren Sicht auch im Exil von Individuen "Heil" erlebt werden kann. In gleicher Weise recht eng am Text orientiert ist die Untersuchung von Ps 104 (V). Sie bezieht daneben altorientalisches Vergleichsmaterial ein und führt zu einer positiven Einschätzung des Psalms in Bezug auf die Art der Auseinandersetzung zwischen Alltagserfahrungen und mythischen Konzepten.

Vier Untersuchungen zum Qoheletbuch (VI-IX) setzen ihre Schwerpunkte im weiteren Bereich des Forschungsschwerpunktes der 1990 abgeschlossenen, aber noch nicht veröffentlichten Habilitationsschrift des Autors: Im VI. Kapitel versucht der Autor plausibel zu machen, daß sich in Qoh 7,26 keine frauenfeindliche Einstellung niedergeschlagen hat, sondern eine Kritik an der personifizierten Weisheit der Einleitung des Proverbienbuches. Daß sich in der Sicht des Lebensgenusses als eines dem Menschen nicht verfügbaren Gutes eine Auseinandersetzung mit griechisch-philosophischen Topoi finden kann, untermauert der Beitrag zu Qoh 2,24-26 (VII). Ebenfalls hält der Autor eine kritische Auseinandersetzung mit prophetischer Eschatologie im Qoheletbuch (VIII) für möglich. Im IX. Kapitel ist wiederum eine Auseinandersetzung zu beobachten, und zwar diejenige Qohelets mit der Tora. Sie wird im Qoheletbuch eher wie ein - kritisierbarer - klassischer Text rezipiert und weniger als ein in allen Teilen verbindliches Dogma.

Im vorletzten Beitrag (X) überrascht der postmodern inspirierte Blick, der am Proverbien-Text neue Erträge zu erbringen vermag. Der Autor stellt anhand von Prov 10 heraus, wie die Nebeneinanderstellung von Widersprüchlichem durch die Proverbien-Redaktion die Leserinnen und Leser des Buches zum Diskurs um Werte anregen soll. Im abschließenden Beitrag findet sich eine Predigt zu den Gottesreden des Hiobbuches, die sich an die Forschungsergebnisse von Othmar Keel zum Thema anlehnt. Sie ist anläßlich des 50. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkriegs gehalten worden.

K. hat seine Aufsatzsammlung unter den Titel "Kritische Weisheit" gestellt. Nicht alle Untersuchungen allerdings lassen sich wirklich hierunter fassen. Am wenigsten findet sich eine Auseinandersetzung mit "Weisheit" im gängigen Verständnis der alttestamentlichen Forschung in den Aufsätzen mit alttestamentlich-ethischem Schwerpunkt in Kap. I und II. Hätte der Autor allerdings "Weisheit" im Duktus der Forschung am Beginn dieses Jahrhunderts verstanden, also als "Moral" und "Sittlichkeit", dann wäre eine Diskussion um "weisheitlich-ethische" Haltungen möglich gewesen. Eine solche Verbindung ist aber auch im Vorwort nicht hergestellt worden; vermutlich, weil das Thema "Ethik" an Gen 38 und dem Tötungsverbot des Dekalogs verhandelt wird - also anhand zweier Texte, die gemeinhin nicht als weisheitliche gelten.

Die Frage nach dem Zusammenhang von "Weisheit" und "Ethik" ist nicht die einzige, die im Rahmen der Suche nach dem kritischen Potential von Weisheit gestellt werden könnte. Auch andere Fragen geraten bei K. aus zwei Gründen aus dem Blick. Zum einen arbeitet er - wie die von ihm kritisierte alttestamentliche Forschung - nicht mit einem genauer umrissenen Verständnis von "Weisheit". Ein inhaltlich bestimmtes Weisheitsverständnis, das nicht per se an die Grenzen der "Weisheitsschriften" gebunden ist, könnte den Blick dafür öffnen, daß der alttestamentlichen Weisheit wesentlich mehr kritischer Impetus innewohnt, als dies oft angenommen wird. Zum anderen nutzt der Autor die Möglichkeit nicht, seine z. T. schon einige Jahre alten Beiträge im Vorwort in den Kontext der seitdem vorangeschrittenen Forschung einzubetten. Die mittlerweile in einiger Breite vorhandene, in ähnliche Richtung votierende Literatur findet kaum oder keine Erwähnung.2 So erscheint K.s These, zusätzlich begünstigt durch die etwas einseitige und dadurch überholte Darstellung alttestamentlicher Weisheitsforschung im Vorwort, in unnötiger Weise als "einsam" in der Forschungslandschaft stehend - de facto befindet sie sich mittlerweile in guter Gesellschaft. Der Autor verzichtet leider darauf, seine fundierten Forschungserträge aus der Arbeit an Einzeltexten und seine darauf aufbauenden fruchtbaren und weiterbringenden Thesen in den Zusammenhang einer breiteren Forschungsmeinung einzuordnen. Daß dies noch geleistet wird, ist sehr zu wünschen.

Fussnoten:

1) Dadurch ist u. a. eine unterschiedliche Schreibweise der biblischen Bücher bedingt; z. B. wechseln sich "Qohelet" und "Kohelet" ab.

2) Eine Auswahl an Literatur, die - neben anderen Themen - auch die Frage nach der Aufnahme und Auseinandersetzung mit "außerweisheitlichen" Traditionen und theologischen Konzepten des Alten Testaments berührt: Claudia V. Camp, Wisdom and the Feminine in the Book of Proverbs, BiLiSe 11, Sheffield 1985; Lennart Boström, The God of the Sages. The Portrayal of God in the Book of Proverbs, CB.OT 29, Lund 1990; Franz-Josef Steiert, Die Weisheit Israels - ein Fremdkörper im Alten Testament? Eine Untersuchung zum Buch der Sprüche auf dem Hintergrund der ägyptischen Weisheitslehren, FThSt 143, Freiburg/Br. 1990; Christl Maier, Die "fremde Frau" in Proverbien 1-9. Eine exegetische und sozialgeschichtliche Studie, OBO 144, Fribourg/Göttingen 1995; Scott L. Harris, Proverbs 1-9: A Study of Inter-Biblical Interpretation, SBL.DS 150, Atlanta 1995; Gerlinde Baumann, Die Weisheitsgestalt in Proverbien 1-9. Traditionsgeschichtliche und theologische Studien, FAT 16, Tübingen 1996; Georg Braulik, Das Deuteronomium und die Bücher Ijob, Sprichwörter, Rut. Zur Frage früher Kanonizität des Deuteronomiums, in: Erich Zenger [Hrsg.], Die Tora als Kanon für Juden und Christen, HBS 10, Freiburg u. a. 1996, 61-138; Silvia Schroer, Die Weisheit hat ihr Haus gebaut. Studien zur Gestalt der Sophia in den biblischen Schriften, Mainz 1996.