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Ausgabe:

September/2013

Spalte:

1035–1037

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Noormann, Harry [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Arbeitsbuch Religion und Ge­schichte. Das Christentum im interkulturellen Gedächtnis. Bd. 2.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2012. 288 S. m. 51 Abb. u. Ktn. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-17-020031-9.

Rezensent:

Daniel Cyranka

Nach dem im Jahre 2009 publizierten ersten Band des Arbeitsbuches (vgl. ThLZ 136 [2011], 27–29) liegt nun der abschließende zweite Band vor. Im Vorwort reklamiert der Herausgeber die theologische Seite der Debatte über Erinnerungskultur, indem er sich auf das 2010 erschienene Werk »Erinnerungsorte des Christentums« (hrsg. v. Chr. Markschies u. H. Wolf) beruft. Erinnerung wird hier als Gedächtnis im Sinne einer »Erinnerungsreligion« (10) verstanden, der Erinnerung und Verheißung von den jüdischen Wurzeln her »konstitutiv eingestiftet« (ebd.) seien.
Lässt sich mit einer solchen Wesensbeschreibung, die offenbar eine theologische Grundmarkierung sein soll, ein grundsätzliches historiographisches Problem umgehen? Das Verhältnis von Re­präsentativität und Subjektivität der Auswahl sowie die Frage der Systematik werden im Vorwort zumindest benannt. Das Verhältnis einer auch hier vorausgesetzten »theologischen Basiska­tegorie« Erinnern zur Historiographie ist jedoch nach wie vor ungeklärt. Für diese notwendige Klärung wird ein Lehr- und Studienbuch allerdings auch nicht der geeignete Ort sein.
Für den Herausgeber sind die Zielgruppen der beiden Bände entscheidend, die im ersten Band mit Lehramtsstudierenden und Lehrenden der Sekundarstufen I und II angegeben wurden. Somit bewegt sich die Auswahl der Themen zwischen Curriculum und »neue[n] thematische[n] Akzentuierungen im Vorzeichen religiöser und kultureller Pluralität« (ebd.). Dabei wird ein doppeltes Anliegen verfolgt. Einerseits sollen konventionelle Sichtweisen mit anderen Sichtweisen kontrastiert werden. Andererseits »werden die gemeinhin als ›elementar‹ eingestuften Themen ausdrück­lich den Fragen ihres erinnerungskulturellen Gehalts im Horizont einer konfessions-, weltanschauungs- und religionspluralen Gegenwartskultur ausgesetzt« (ebd.).
Die damit aufgerufenen Themen »Konfession«, »Religion« und »Weltanschauung« sind also auf die dargestellten Themen zu beziehen. Bereits auf den ersten Blick wird deutlich, dass die Themen, die hier in Erinnerung gerufen werden sollen, nicht erst platziert werden müssen, sondern bereits seit längerer Zeit im Diskurs strittig, oder besser: ambivalent, vorhanden sind. Ähnliches galt bereits für den ersten Band, der z. B. die Themen Kreuzzüge und Ketzerverfolgungen thematisierte. Insgesamt, so scheint es, geht es im zweiten Band um eine kritische Revision problematischer Aspekte vornehmlich deutscher und besonders evangelischer Kirchengeschichte.
Der Titel des Werkes, der mit Begriffen wie Religion, Geschichte, Christentum und interkulturelles Gedächtnis versehen ist, weckt allerdings andere Erwartungen. Gleichwohl ist dem Band zu bescheinigen, eine Menge brisanter Themen zur Dis­kussion zu stellen. Es lässt sich nun anhand der Themen danach suchen, wer der jeweils Andere ist, von dem aus das Vorgestellte auch zu sehen sein soll, um Perspektivwechsel zu ermöglichen, die einer konfessionell, religiös, kulturell und weltanschaulich pluralen Ge­sellschaft und der theologischen Interkulturalität.
Im Falle des ersten Beitrages »Martin Luthers Stellung zu Judentum und Islam« (A. Pangritz) wird wohl an Luthers jüdische und muslimische Zeitgenossen zu denken sein – die als Andere aber nicht zur Sprache kommen. Neben der kritischen Revision von Luthers Juden- und Türkenpolemik wird hier eine religionstheologische Brücke geschlagen, indem die Voraussetzung Luthers – der unterschiedlich häretische Bezug auf den einen Gott – gegen eine zeitgenössische Trennung in mehrere Götter in Erinnerung gerufen wird.
Im zweiten Beitrag werden als die Anderen vermutlich die lateinamerikanischen kontextuellen Theologien resp. ihre Vertreter zu bestimmen sein. Unter der Überschrift »Kolumbus und Las Casas – Eroberung und Evangelisation Lateinamerikas« (M. Schmidt-Kortenbusch) wird die Eroberungsgeschichte kritisch reflektiert und eine Skizze heutiger Verhältnisse vorgestellt. Es geht um das Ernstnehmen konfessionell und kontextuell differenter Theologien, auf die hier verwiesen wird.
Im Hinblick auf »Hexenverfolgung« (A. Angenendt) soll hier die nochmalige Verabschiedung der Neun-Millionen-Theorie vermerkt werden, für die vor allem auf W. Behringer hingewiesen wird. Von diesem Bezug lässt sich lernen, wie das Thema Hexen seit dem 18. Jh. in unterschiedliche Kontexte zu unterschiedlichen Ab- und Ausgrenzungen immer wieder eingeschrieben wird. In dieser Perspektive entwickelt Historiographie ein kritisches Potential, das sich nicht nur auf die Gegenstände, sondern eben auch auf den jeweiligen Autor selbst bezieht.
In seinem Beitrag »Nächstenliebe und Menschenrechte – die Soziale Frage im 19. Jahrhundert« weist der Herausgeber H. Noormann auf unterschiedliche Frontstellungen hin. Diese hätten dazu geführt, dass es den Kirchen beim Thema Menschenrechte lange Zeit auch um eine Auseinandersetzung mit als bedrohlich angesehenen säkularen Menschenbildern und Gesellschaftsmodellen ging. Hier sieht Noormann den historischen Schlüssel zur Beantwortung kritischer Einwände gegen die erst sehr spät zu findenden positiven Bezugnahmen der Kirchen auf die Menschenrechte. Die Anderen wären sicherlich unter den Kirchenkritikern auszumachen, wie am Beispiel der Abgrenzung Wicherns von Kommunisten (138–140) leicht ersichtlich werden kann und mit Blick auf Arbeitermilieus klar herausgestellt wird (147–149).
Das Thema Frontstellungen durchzieht in besonderer Weise auch die Beiträge über »Christen und Nazis« (T. Breuer) sowie »Im Schatten der Shoa – Evangelisches Christentum und Judentum in Deutschland nach 1945« (U. Rudnick). Zum ersten Thema werden »Stolpersteine gegen das Vergessen« aufgestellt, die an zwei katholische und zwei evangelische Frauen erinnern, »die durch ihr mutiges Eintreten für die Rechte anderer christliche Existenz in dunkler Zeit glaubwürdig verkörperten« (186): G. Luckner, M. Sommer, K. Staritz und E. Schmitz. Im Zusammenhang des zweiten Themas wird ein Überblick über das Thema Kirche und Judentum gegeben, nicht ohne Hinweis darauf, dass der Dialog in Deutschland durch die Shoa geprägt sei. Allerdings gelte, dass vieles, »was als christlich-jüdischer Dialog beschrieben wird, […] im Kern christliches Nachdenken über christliche Theologie« (209) sei. Dies wird auch als »Stolperstein« benannt, sind doch die Erwartungen der Dialogpartner an den Dialog höchst unterschiedlich und sollten immer wieder in den Blick kommen. Der Beitrag verdeutlicht die Spannung zwischen irritierender Interkulturalität auf der einen und letztlich bei sich bleibender Selbstreflexion und Exkulpation auf der anderen Seite.
Im Beitrag »Brot für die Welt – ›Entwicklung‹ in ökumenischer Perspektive« (G. Rüppell) kommen auch andere Stimmen selbst zu Wort, wie der Kameruner Filmemacher J.-M. Teno: »Nachdem Deutschland 1945 zum zweiten Mal den Krieg verloren hatte, war es verpflichtet seine Geschichte zu betrachten und die eigene Vergangenheit zu hinterfragen. […] Jahrhunderte sind vergangen und Afrika ist immer noch ›Missionsgebiet‹. Die ›humanitären Helfer‹ von heute haben die Missionare von einst ersetzt. Die Kolonisation hat sich das Kostüm der Globalisierung angezogen und in Afrika ist nichts Neues am Horizont in Sicht: immer noch ein bisschen mehr Hilfe ( charité) und immer weniger Gerechtigkeit.« (233) In diesem Beitrag wird das Thema Interkulturalität wohl am deutlichsten berührt, was in anderen Texten des ersten und zweiten Bandes nicht in diesem Maße der Fall ist. Das gilt insbesondere auch für den letzten Beitrag »Die Mauer« (A. Rothe), der sich mit DDR-Geschichte befasst. Hier stellt sich die Frage, wer aus welcher Perspektive ›Andere‹ als ›Andere‹ bestimmt. Immerhin geht es in den zwei nunmehr vorliegenden Bänden um »Das Christentum im interkulturellen Gedächtnis«! Gerade der letzte Beitrag macht jedoch deutlich, dass weniger Interkulturalität als die Verwobenheiten der Kirchengeschichte im Fokus stehen. Dabei wird notwendigerweise die Spannung zwischen Involviertheit und Analyse deutlich.
Die für den Horizont des Religionsunterrichtes vorgelegte Textsammlung setzt so etwas wie eine kritische Kirchengeschichte frei, die Kritik aufnimmt und gleichzeitig – in aller Regel implizit, teilweise aber auch explizit – heutiges Christentum und heutige Kirchen in Deutschland davon absetzt. Ketzerverfolgungen, Kreuzzüge, Kolonialismus, Nationalsozialismus und andere Brechungen einer positiven Kirchengeschichte werden neben weiteren Themen in den beiden Bänden diskutiert. Das markiert weniger eine interkulturelle Christentumsgeschichte als vielmehr eine kritische Revision und apologetische Verarbeitung problematischer Aspekte der eigenen Kirchengeschichte. Als eine solche ist dieses Studien- und Lesebuch für den angezeigten religionspädagogischen Rahmen zu empfehlen.