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Ausgabe:

September/2013

Spalte:

1030–1033

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Bubmann, Peter, Doyé, Götz, Keßler, Hildrun, Oesselmann, Dirk, Piroth, Nicole, u. Martin Steinhäuser[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Gemeindepädagogik.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2012. XV, 356 S. m. Abb. = De Gruyter Studium. Kart. EUR 24,95. ISBN 978-3-11-022108-4.

Rezensent:

Rainer Lachmann

Endlich eine »Gemeindepädagogik«, die von denen herausgegeben ist, die in Lehre und Forschung hauptamtlich mit dem gemeindepädagogischen Handeln der Kirche beschäftigt sind. Alle sechs Herausgeber und Herausgeberinnen lehren oder lehrten – wie der emeritierte Götz Doyé und der an die Erlanger Theologische Fakultät berufene Peter Bubmann – an Evangelischen (Fach-)Hochschulen und wissen aus eigener Erfahrung, wovon sie schreiben. Die Universitätsseite, der sich die bisherigen Gemeindepädagogiken (G. Adam/R. Lachmannn 1987 u. 2008; K. Wegenast/G. Lämmermann 1994; Chr. Grethlein 1994 und jüngst B. Schröder 2012) verdanken, ist mit Artikeln von Michael Domsgen, Uta Pohl-Patalong und Friedrich Schweitzer vertreten und bereichert das Programm des Buches mit je eigenen Spezialgebieten.
Anliegen und Eigenart vorliegender Gemeindepädagogik lassen sich in gewünschter Klarheit schon an den Rahmen-Artikeln ablesen: an »Einleitung« und »Teil D: Berufstheorie«. Gerade mit dieser informativen und erfahrungskompetenten Berufstheorie (259–349) wird eine Lücke in den herkömmlichen Gemeindepädagogiken gefüllt, die in berufsbezogener Konkretion wesentliche Grundaxiome und Grundfragen thematisiert.
Die Problemanzeige beginnt bereits mit dem Artikel von Hild­run Keßler »Gemeindepädagogische Berufstätigkeit zwischen Sozialarbeit und Pfarramt«, der nicht nur eine sachkundige »Übersicht« über die derzeitigen Ausbildungsstätten vermittelt, sondern mit der historischen Perspektive auch wichtige Entwicklungen der Gemeindepädagogik vom 19. Jh. bis zur Ausbildung in Ostdeutschland aufzeigt. Wenn hier »die Idee einer Gemeinschaft geistlich gleichrangiger Mitarbeitender« (283) ins (visionäre) Spiel gebracht wird und »Amt und Ordination« bekenntnisschriftlich reflektiert werden, dann ahnt man etwas von dem berufstheoretischen Dilemma, in dem Gemeindepädagoginnen und -pädagogen heute noch stecken, auch wenn sie in ihrem Dienst an der »Kommunikation des Evangeliums« zusehends »mündiger« werden (287 f.)! Auch die beiden anderen Beiträge zur Berufstheorie, »Ge­meindepädagogische Professionalität: berufliche Kompetenzen und Aufgaben« von Nicole Piroth und Matthias Spenn und »Ge­meindepädagogische Arbeit zwischen Engagement und Profession« von Beate Hofmann, haben je auf ihre Weise und je in ihrer Perspektive Teil an den von Keßler intonierten Problemen, Profilen und Kompetenzen der gemeindepädagogischen »Profession«.
Die von den Herausgebern gemeinsam »vor-geschriebene« Einleitung (1–29) verlangt für den Umgang mit dem »Studienbuch« keine kursorische Lektüre in der Reihenfolge der Artikel. Das macht die für alle vier Teile gleiche »Inhaltsmatrix des Studienbuches« möglich, wonach nacheinander »Historische Entwicklungen«, »Grundfragen der Gegenwart« sowie »Spannungsfelder und Widersprüchlichkeiten« thematisiert werden.
Anders als die vorangegangenen universitären Gemeindepädagogiken verzichtet das Studienbuch auf eine »Gesamtdarstellung gemeindepädagogischer Handlungsfelder« und begnügt sich schwerpunktmäßig mit der Behandlung »gemeindepädagogisch relevanter Grundfragen«, die »jeweils an einem Handlungsfeld beispielhaft expliziert werden« können. Bei der Vielzahl und Verschiedenheit der Handlungsfelder lässt sich das Buch die Chance entgehen, ihre jeweilige Theorie an den Erfordernissen ge­meindepädagogischer Praxis zu konkretisieren und zu verifizieren. Was die referierten gemeindepädagogischen Konzeptionen betrifft, hält sich das Studienbuch zurück; es »lässt sich nicht einfach auf eine dieser Konzeptionen festlegen, sondern versucht mit der Be­schreibung von Problemperspektiven der Gemeindepädagogik einen eigenständigen integrativen Ansatz« (12).
Nach der »Einleitung« befasst sich die »Gemeindepädagogik« mit den vier Themenfeldern »Gemeinde«, »Pädagogik«, »Lebenswelten« und »Berufstheorie«, die entsprechend der »Inhaltsmatrix« je drei Artikel und eine kurze Einführung bieten. Für alle, die mit diesem Buch arbeiten, sind damit klar gegliederte Strukturen vorgegeben, die dem erklärten Anspruch genügen, »ein Studier-Buch« (ohne »eindeutige« Definitionen) und kein »Lehr-Buch« (mit »eindeutigen« Definitionen) zu sein (35)!?
Sehr hilfreich beim Studium dieser »Gemeindepädagogik« sind die in Petit gesetzten Sachinformationen sowie die ausgewählte neuere »Literatur zur Vertiefung« und nicht zuletzt die »Impulse zur Weiterarbeit«. Das unterstützt in didaktischer Hinsicht das »Anliegen des Studien­buches […], die Lesenden zu eigener Urteilsbildung in wesentlichen gemein­de­pädagogischen Grundfragen anzuregen« und sich dabei konstruktiv im Zielhorizont der »Kommunikation des Evangeliums« zu bewegen (3.113). Diese bekannte Formulierung Ernst Langes durchzieht als gemeindepädagogische Leitkategorie alle Artikel. Damit partizipiert auch diese »Gemeindepädagogik« an einem religionspädagogischen Konsensbegriff, der sich spätestens seit den 80er Jahren nicht nur in der Gemeindepädagogik (G. Adam/R. Lachmann 1987), sondern auch in der schulischen Religionspädagogik durchsetzt und jüngst etwa auch die ›allgemeine‹ »Religionspädagogik« (Tübingen 2012) von Bernd Schröder bestimmte.
Schon der erste Artikel von Teil A: Gemeinde (31–105), Uta Pohl-Patalongs »Gemeinde in historischer Perspektive«, demonstriert die kriteriologische Brauchbarkeit und theologische Dignität des Langeschen Konsensbegriffs, wenn die Autorin konstatiert, dass gegenüber dem Kommunikationsauftrag der Kirche »jedwede Gemeindeform eine dienende Funktion« hat und »niemals Selbstzweck« ist (59). Unter dieser kritisch befreienden Perspektive werden »Parochie« und »Ortsgemeinde« als menschliche Organisationsformen in den Blick genommen und der geschichtlichen Perspektive der »Entwicklung zur heutigen Gestalt von Gemeinde« ausgesetzt.
Unter dem Aspekt »topologischer Wahrnehmungen« nimmt Martin Steinhäuser »Gemeinde im Raum, Gemeinde als Raum« in den Blick, was er in seiner Multiperspektivität durch ein Schaubild gemeindepädagogisch systematisiert (68). Die Fruchtbarkeit dieser topologischen Zugangsweise zeigt sich, wenn Steinhäuser die Gemeinde nacheinander als »begrenzenden Raum«, »entgrenzenden Raum«, »nicht organisierbaren Raum« und »organisierbaren Raum« analysiert. Von daher liegt es nahe, »die räumlich-didaktisch« bestimmte »Kom­munikation des Evangeliums« im Handlungsfeld »Kirchenraumpädagogik« zu spiegeln (78 ff.).
Beinahe wider Erwarten noch fruchtbarer erweist sich die Zeit-Belichtung der Gemeinde, die Peter Bubmann mit seinem Artikel »Die Zeit der Gemeinde. Kirchliche Bildungsorte zwischen Kirche auf Dauer und Kirche bei Gelegenheit« vornimmt. Milieuspezifische Zeit-Passung, »Kasualisierung des Kirchenbezugs«, »Beteiligungskirche?«, »Kirche bei Gelegenheit?«, Gemeinde »zwischen Ereignis und Institution«, zwischen »Gelegenheit und lebensbegleitender Kontinuität« – das sind die Spannungsfelder und Widersprüchlichkeiten, die sich anhand des Zeitlichkeitstopos entdecken und bedenken lassen. Als »Formen ›kasueller‹ Bildungsarbeit in der ›Kirche bei Gelegenheit‹« stellt Bubmann drei Beispiele vor: kirchliche Erwachsenenbildung, »Seelsorgegespräche anlässlich von Hausbesuchen« und Kirchentage – leider nur als kurze Schlaglichter!
Teil B: Pädagogik (109–182) versucht die pädagogischen Fragestellungen der Gemeindepädagogik zu akzentuieren. Historisch zeichnet Götz Doyé die Phasen der Entwicklung »Von der Katechetik zur Gemeindepädagogik« nach. Er beginnt seinen Abriss mit dem 19./20. Jh., weil er meint, hier den Beginn der jüngeren Geschichte der Gemeindepädagogik ansetzen zu müssen (117). Es folgen relativ ausführlich das »Altkirchliche Katechumenat«, die »Reformationszeit« und die »Entwicklungen nach 1945 in Ost und West« sowie abschließend die jüngsten Phasen der Gemeindepädagogik. Ausgelassen werden Pietismus und vor allem Aufklärung, wo die Pädagogik und in ihrem Gefolge auch die Religionspädagogik zur eigenständigen Wissenschaft wurden. Bezeichnend ist hier der letzte Abschnitt »Katechumenat – das taufbezogene Handeln der Gemeinde«, der mit starken Anklängen an das »altkirchliche Katechumenat« und die »Katechetik« die »Taufe« als wesentliches Element und Feld »gemeindepädagogischen Handelns« ›besingt‹.
Mit Michael Domsgens Beitrag »Bildung, Erziehung und Sozialisation im Lebenslauf« fokussiert sich dann die Gemeindepädagogik mit ihren »Leitbegriffen« auf die ihr eigene pädagogische Dimension. Mit klaren Definitionen (!) wird das »religiöse und christliche Lernen« erschlossen und unter der Perspektive von Lebenslauf und lebenslangem Lernen als »Herausforderung einer Gemeindepädagogik im Wandel« bedacht. Von daher erfährt »Die Familie als gemeindepädagogisches Handlungsfeld« eine relativ ausführliche Behandlung, die – wie bei einem Experten auf diesem Gebiet nicht anders zu erwarte n– in ein überzeugendes »Plädoyer für eine familienorientierte Gemeindepädagogik« mündet.
Wie die Gliederungsmatrix es verlangt, wird der Pädagogik-Teil mit Reflexionen von Nicole Piroth zu »Ambivalenzen und Antinomien gemeindepädagogischen Handelns« abgeschlossen. Sie eröffnen einen problembewusst realis­tischen Blick in die aktuellen Befunde, Risiken und Chancen pädagogischer Arbeit am »alltäglichen Lern- und Lebensort« Gemeinde und landen über den Beispielen gemeindepädagogischer Projektarbeit bei »Gemeinde als Projekt« und »bei Gelegenheit«. Bedenklich anregend sind dabei das Schluss-»Plädoyer für eine absichtslose Gemeindepädagogik« und ein »Widerspruchsmanagement als professionelle Kompetenz« (178 ff.).
Teil C untersucht unter dem Aspekt Lebenswelten das pädagogische Handeln in der Gemeinde (183–257) und betrachtet an erster Stelle die Zielgruppen. Das heißt für die Gemeindepädagogik, einen »Perspektivenwechsel« zu voll­-ziehen hin zu den Menschen und das analog zum »Paradigmenwechsel« in der Pädagogik hin zur »Lebensweltorientierung« (185). Entsprechend spielt die inhaltliche Dimension in dieser »Gemeindepädagogik« eine eher marginale Rolle und gerät etwa eine gemeindepädagogische Didaktik schnell in den schlimmen Verdacht unterrichtlicher Verschulung.
Interessanterweise wird die Lebenswelten-Dimension mit einem reinen Handlungsfeld-Artikel von Friedrich Schweitzer »Individuelle Bildungsbedürfnisse und kirchliche Bildungsangebote im Wandel der Zeit« eingeläutet, der durchgängig auf das »Beispiel des Konfirmandenunterrichts« oder besser: der »Konfirmandenarbeit« bezogen ist. Geschichtlich dominieren dabei die Wandlungen und Entwicklungen Ende des 20. und Anfang des 21. Jh.s in Ost und West mit dem Fazit: »Konfirmandenarbeit – ein Erfolgsmodell mit Optimierungsmöglichkeiten« (198 ff.). Hier schöpft der Autor aus seiner einschlägigen Forschungsarbeit und seiner Teilnahme an der aktuellen Diskussion effektiver Konfirmandenarbeit. Umso gewichtiger sind die »Aufgaben für die Zukunft« der Konfirmandenarbeit: kommunikative Passung von Botschaft der Kirche und Bedürfnissen und Fragen der Jugendlichen sowie Vernetzung von Konfirmandenarbeit, Jugendarbeit und Schule (206).
Mit »Gesellschaftliche[n] Entwicklungen als Herausforderung an eine weltverantwortende Gemeindepädagogik« befasst sich der Beitrag von Dirk Oesselmann. Bedenkenswerte »Grundfragen an die Kirche und das Christsein in der Gemeinde« eröffnen einen weiten Horizont für eine Gemeinde-pädagogik, die sich den gesellschaftlich zentralen und globalen Herausfor­derungen unserer Welt stellt, ohne darüber die »Auswirkungen auf der zwi­schenmenschlichen Ebene« aus dem Blick zu verlieren. Diese gemeindepädagogisch eher unkonventionelle und innovative Perspektive versucht Oesselmann konzeptionell zu einer »weltverantwortenden Gemeindepädagogik« zu entwickeln. Mit der Vernetzung von gemeindlich Lokalem mit weltgesellschaftlich Globalem plädiert er dabei mit Recht und Engagement für »die politische Anwaltschaft von christlichen Gemeinden« als wesentlichem Element gemeindepädagogischen Denkens und Handelns (211.225).
Lebensweltliche Milieuorientierung (vgl. 86) bestimmt den Beitrag von Claudia Schulz über »Kirchliche und gemeindliche Bildungsarbeit zwischen Milieuorientierung und ›Einheitsbildung‹«, der wirklichkeitsnah die »Spannungsfelder« milieusensibler Bildung beschreibt. Beispielhaft konkretisiert wird die Spannung zwischen gemeindlicher Vielfalt und Verschiedenheit und Einheitsbildung am Handlungsfeld »milieusensibler Bildungsarbeit« mit Seniorinnen und Senioren. Realistisch wird der Grundbefund beschrieben und typisiert, wonach sich im Alter »Menschen aller Milieus« finden, was gemeindepädagogische Seniorenarbeit sensibel zu berücksichtigen hat. Dass sie damit notgedrungenermaßen an die Grenzen ihrer Anstrengungen stoßen muss, macht zugegebenermaßen das Spannungspotential gerade auch in kirchlich gemeindepädagogischer Hinsicht aus und führt nicht zuletzt zu der berechtigten ekklesiologischen Frage, inwieweit man überhaupt »von einer Einheit der Christen unter den Bedingungen der hohen sozialen Diversität, z. B. in Milieus« sprechen kann (255). Gute »Gemeindepädagogik« regt eben immer auch theologisch an und auf!
Auf- und anregend ist auch die vorgestellte »Gemeindepädagogik«, die in ihrer katechetischen Verwurzelung und Entstammung viele Äste und Zweige gemeindepädagogisch neu zum Blühen bringt. Damit bereichert dieses »Studier-Buch« die herkömmliche gemein­depädagogische Szene durch im besten Sinne fragwürdige und be-denkliche Erkenntnisse, Perspektiven, Anregungen und Beobachtungen. Das macht es spannend und lesenswert, auch wenn dem einen oder anderen praktisch gepolten Gemeindepädagogen die Handlungsfeld-Konkretionen fehlen dürften.