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Ausgabe:

September/2013

Spalte:

1027–1028

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Neumann, Maike

Titel/Untertitel:

Der Buß- und Bettag. Geschichtliche Entwicklung – aktuelle Situation – Bedingungen für eine erneuerte Praxis.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie 2011. 568 S. m. Abb. Kart. EUR 49,90. ISBN 978-3-7887-2554-9.

Rezensent:

Peter Zimmerling

Das Buch stellt die Drucklegung einer auf der Grenze von Kirchengeschichte und Praktischer Theologie angesiedelten Dissertation von Maike Neumann dar, die 2010 von der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel angenommen wurde. Die Seitenzahl der Arbeit weist schon darauf hin: Es handelt sich dabei um ein voluminöses Werk, das im Grunde mehrere Dissertationsthemen in sich vereinigt. Es stellt allein von daher eine beachtliche Leistung dar, dass es der Vfn. gelungen ist, in sich selbständige kirchenhis­torische und praktisch-theologische Untersuchungsgegenstände zu einer einheitlichen Arbeit zu verbinden, wobei exegetische und systematisch-theologische Überlegungen den dazu notwendigen »Kitt« lieferten. Die Vfn. hat nicht nur ein enormes historisches Quellenstudium geleistet (worauf bereits die Fülle der im Literaturverzeichnis aufgeführten Quellen hinweist), sondern im Laufe ihrer Untersuchung auch Predigtanalysen und eine empirische Untersuchung durchgeführt.
Die Arbeit gliedert sich in zehn Hauptkapitel, auf die ich in dieser Besprechung natürlich nur exemplarisch eingehen kann. Das erste Kapitel fasst die exegetischen Erkenntnisse zu Bedeutung und Stellenwert von Buße/Umkehr in den biblischen Texten zu­sam­men. Offensichtlich fühlt sich die Vfn. einer reformatorisch geprägten, biblisch begründeten Theologie verpflichtet, wenn sie als Fazit festhält: »Alle geschichtlichen Weiterentwicklungen [zum Thema Buße/Umkehr] müssen sich daran messen lassen, ob sie die von Gott aus Gnade heraus gewährte Rückkehr dessen, der seine Sünde erkennt, in die Gottesbeziehung im Blick haben, und ob sie das der Buße inhärente kollektive Moment, die Wechselwirkung des Einzelnen zur Gemeinschaft der Glaubenden, im Blick behalten.« (43) Im zweiten Kapitel wird die Entstehung und Entwick-lung der altkirchlichen und mittelalterlichen Bußpraxis resümier t– bis hin zur staatlichen Anordnung von Bußtagen, die bereits auf das noch heidnische Römische Reich zurückgeht. Die folgenden drei Kapitel fokussieren den Blick dann auf ein kleineres, abgrenzbares Gebiet, das nördliche Rheinland mit den drei Herzogtümern Jülich, Kleve und Mark.
Die Vfn. rekonstruiert darin die Entwicklung des Buß- und Bettages seit der Reformation bis zum Ende des landesherrlichen Kirchenregiments 1918. Auf diese Weise gelingt es ihr, die Herausbildung des jährlichen, staatlich festgelegten Buß- und Bettages am Mittwoch vor dem Totensonntag nachzuzeichnen. Entscheidend ist hier ihre Beobachtung, dass spätestens mit der Aufklärung der durch die reformatorische Theologie ge­prägte inhaltliche Sinn des Feiertages nachhaltig in Frage gestellt wurde: durch das Bekenntnis (kollektiven) sündhaften Handeln auf Gottes Verhalten Einfluss zu nehmen. Es blieb im protestantisch dominierten Kaiserreich die allgemein akzeptierte Funktion eines landesweiten Buß- und Bettages als Symbol staatlicher Einheit. Das sechste Kapitel zeichnet die inhaltliche Ausrichtung des Buß- und Bettages im 20. Jh. von der Weimarer Republik, über das Dritte Reich und die Bundesrepublik bis hin zu seiner Abschaffung als arbeitsfreien gesetzlichen Feiertags 1994 nach. Der Reiz dieses Kapitels besteht darin, dass die Vfn. dazu ausgewählte Predigten analysiert, die im Anhang der Untersuchung dokumentiert werden. Es wird dabei deutlich, dass die Zeit der Bekennenden Kirche und der un­mittelbaren Nachkriegszeit eine erstaunliche, allerdings zeitbedingte, Renaissance des biblisch-reformatorischen Bußverständnisses brachte. Die dialektische Theologie Karl Barths und seiner Freunde lieferte dazu das inhaltlich-theologische Fundament. Seit den 1968er Jahren tritt die strukturelle, politische Form der Schuld beherrschend in den Vordergrund. Die sich anschließenden drei Kapitel gehen stark empirisch vor. Mithilfe von Materialmappen zur Gottesdienstgestaltung am Buß- und Bettag der Rheinischen Kirche zwischen 1996 bis 1998 werden im siebten Kapitel neuere Entwicklungen herausgearbeitet. Im achten Kapitel geht es um die Einordnung des Buß- und Bettages in das Kirchenjahr. Die Vfn. kommt zu dem Schluss, dass es nur über die Einsicht in den spezifischen Inhalt des Buß- und Bettages zu seiner Stabilisierung im Verlauf des Kirchenjahres kommen kann, wobei jedoch das Störungspotential des Bußrufes kaum begeisterte Zustimmung zu einem entsprechenden Feiertag hervorrufen wird. Im neunten Kapitel wird die gottesdienstliche Praxis des Buß- und Bettags in zwei Kirchenkreisen im nördlichen Rheinland mittels einer empirischen Befragung untersucht. Die Ergebnisse bilden die Grundlage für die »Re-Vision« des Feiertages, die die Vfn. im letzten Kapitel entfaltet. Ich nenne hier abschließend ihre sieben Anregungen: die Verankerung des Individuums in der kollektiven Perspektive stärken; zusätzlicher religionspädagogischer Einsatz im Bereich des Schulgottesdienstes und der Erwachsenenbildung; Flexibilität in der Festlegung des Termins (Sonntag oder Mittwoch); die Öffnung der Kirchen am Feiertag; im Gottesdienst am Buß- und Bettag die Möglichkeit zum Kircheneintritt landeskirchenweit geben; die Möglichkeit weiterer, anlassbezogener Buß- und Bettage ins Auge fassen; die Perikopenfestlegung aufgeben.
Worin liegt die Grenze der Untersuchung? Die einzelnen Untersuchungsgegenstände hätten eine weitere Entfaltung verdient, um aussagekräftiger zu werden. Im Schlusskapitel – gelegentlich auch bereits vorher – werden viele Probleme nur benannt, ohne dass die Vfn. eigene inhaltlich-theologische Entscheidungen wagen, ge­schweige denn die Ergebnisse angemessen entfalten würde. Das gilt z. B. für die mehrfach angemahnte Klärung der Frage, ob auch heute noch theologisch verantwortlich von Gottes Handeln durch Gericht und von der Personalität Gottes gesprochen werden kann. Eine Einlösung dieser Forderung jedoch hätte die Seitenzahl des Buches noch weiter anschwellen lassen. Umgekehrt weist die Arbeit an vielen Stellen eine gewisse Redundanz auf, was die Lesefreude trübt. Es wäre in einem weiteren Arbeitsgang relativ leicht gewesen, den Text zu straffen, (Mehrfach-)Wiederholungen zu streichen und so die Ergebnisse zu profilieren.
Dieser Kritik ungeachtet widmet sich das Buch dankenswerterweise einer Überlebensfrage des deutschen Protestantismus, die zwar nicht identisch ist mit der Frage nach der Existenz eines jährlichen Buß- und Bettags, aber unmittelbar mit ihm verbunden ist. Zwischen der Buße einerseits und der Rechtfertigungslehre andererseits besteht ein unhintergehbares Interdependenzverhältnis. Buße und Rechtfertigungslehre bedingen einander. Keine reformatorisch verstandene Buße ohne Rechtfertigungslehre, aber auch keine reformatorische Rechtfertigungslehre ohne die Praxis der Buße! Die Buße bildet den Lackmustest für die evangelische Rede von Schuld und Vergebung. Wenn es denn stimmt, dass der Kern des christlichen Glaubens in der Rechtfertigung des Gottlosen besteht, dann sind liturgische Formen wie der Buß- und Bettag nötig, die diesen Kern des Glaubens erfahrbar machen. Ansonsten verkommt die Rechtfertigungslehre zu einer protestantischen Ideo­logie. Insofern ist die von der Vfn. schonungslos herausgearbeitete, bereits 200 Jahre bestehende Krise des Buß- und Bettags eine Krise des Protestantismus. Ob der Buß- und Bettag als Platzhalter tatsächlich, wie die Vfn. andeutet, zukünftig noch einmal Relevanz entfalten kann – wie in vergangenen Zeiten kirchlicher und gesellschaftlicher Krisen –, kann nur gehofft werden.