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Ausgabe:

September/2013

Spalte:

1023–1025

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Kohli Reichenbach, Claudia

Titel/Untertitel:

Gleichgestaltet dem Bild Christi. Kritische Untersuchungen zur Geistlichen Begleitung als Beitrag zum Spiritualitätsdiskurs.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2012. XIV, 334 S. = Praktische Theologie im Wissenschaftsdiskurs, 11. Geb. EUR 119,95. ISBN 978-3-11-025532-4.

Rezensent:

Corinna Dahlgrün

Das Buch ist die 2010 fertiggestellte Dissertation der Schweizerin Claudia Kohli Reichenbach, die von dem Praktischen Theologen Ralph Kunz und dem Systematiker Pierre Bühler betreut wurde. Die Vfn. bearbeitet hier ein Thema, das bisher überwiegend von katholischen Theologen bedacht wurde, und sie tut dies in einer dezidiert protestantischen, näherhin reformierten Perspektive, die sie in der christologischen und wort-betonten Ausrichtung ihrer Untersuchung verwirklicht sieht. Ihr Ziel ist es zum einen, gegenwärtige Konzeptionen geistlicher Begleitung im Vergleich darzustellen und im Sinne einer diakrisis, einer »Unterscheidung der Geister«, kritisch zu sichten, um für den Umgang mit dem ausufernden Markt entsprechender Angebote Kriterien bereitzustellen, die ebenso erfahrungs- wie handlungsorientierend wirksam werden sollen. Zum anderen will sie insbesondere der bisher in der Literatur nicht ausdrücklich gestellten Frage nach dem geistlichen Weg und dessen Ziel nachgehen, der gemäß den unterschiedlichen Modellen zu be­schreiten ist, womit zugleich die Frage nach der Spiritualität gestellt ist, die in den jeweiligen Begleitprozessen wahrgenommen werden kann und durch sie gefördert werden soll. Damit ist die Untersuchung als Beitrag zur aktuellen Spiritualitätsforschung ausgewiesen; ein praktisch umsetzbarer Beitrag zur Einübung christlicher Spiritualität ist nicht intendiert.
Methodisch setzt sie bei einer der von Kees Waaijman dargelegten Richtungen ein, der mystagogischen Forschung, die nach dem letzten Ziel bestimmter spiritueller Formen und dessen Auswirkungen auf den geistlichen Weg fragt. Diesen Ansatz modifiziert die Vfn., indem sie »formale Aspekte der göttlich-menschlichen Interaktion in Auseinandersetzung mit u. a. (religions-)philosophischen Diskursen bestimm[t], die den menschlichen bzw. den göttlichen Pol in einer für den postmodernen Kontext zugespitzten Weise diskutieren« (12). Die materiale Entfaltung der so gewonnenen Aspekte erfolgt im Rückgriff auf verschiedene Aussagen in Dietrich Bonhoeffers Schriften. Das Problem eines solchen eklektischen Zugriffs auf Bonhoeffers Werk wird von der Vfn. durchaus selbst gesehen (vgl. 181), was es allerdings nicht unbedingt be­hebt– in diesem Punkt wäre die Diskussion der Arbeit im systematisch-theologischen Zusammenhang wichtig.
Die spannungsreichen Bezugspunkte ihrer Untersuchung bilden zunächst drei unterschiedliche, doch sämtlich ignatianisch orientierte Modelle gegenwärtiger geistlicher Begleitung, die auf affektive Erfahrung (Barry/Connolly), spezifische Wege der Nachfolge, die im Prozess unterstützt werden sollen (Schaupp), bzw. die Narrativität des im Begleitgespräch Thematisierten und dessen Bezug zur Tradition, einem »prägenden religiös tradierten Narrativ« (67) abheben (Ruffing). Aus allen dreien, von der Vfn. den drei Personen der Trinität zugeordneten Ansätzen sollen in den weiteren Diskurs Er­kenntnisse integriert werden. Die Engführung auf die ignatianische Schule ist dabei in sich stringent und dürfte auch den Vergleich erleichtern, doch hätte eine Heranziehung etwa der benediktinischen Praxis den Horizont nochmals geweitet. Außerdem deutet sich bereits hier eine Frage an, die die Lektüre durch die gesamten Ausführungen begleitet: Wie bestimmt die Vfn. das Verhältnis zwischen religiös bestimmtem Narrativ, d. h. der christlichen Überlieferung, die durch ihre Heranziehung den Begleiteten und seine Sichtweise verändern könne, und einem möglichen lebendigen Wirken des göttlichen Geistes auch über die Tradition hinaus?
Ein weiterer Bezugspunkt sind religionsphilosophische Be­trachtungen zum Begriff der religiösen Erfahrung, die zumeist im 20. Jh. in den USA angestellt wurden (Stace, Forman, Tracy, Lindbeck, aber auch W. Jäger), die im Gegenüber zu und in Interaktion mit dem religiös tradierten Narrativ vorgestellt und bedacht werden. Religiöse Erfahrung werde, so die Vfn., zur Tradition ebenso in Beziehung gesetzt, wie sie durch die Tradition (mit)konstituiert und geprägt werde. Das mache erforderlich, dass der religiös tradierte Narrativ innerhalb der Begleitung erkundet und eingeübt werde. Es gelte, Religion auf diesem Wege zu erlernen, jedoch »nicht kognitivistisch bzw. voluntaristisch verengt« (113) und ebenso wenig unter Ausblendung des Gemeinschaftsaspektes.
Diese Überlegungen zur Interaktion zwischen biographischem und religiös tradiertem Narrativ, die in geistlicher Begleitung ge­schehe, werden dann unter dem Blickwinkel der These von der Brüchigkeit der Narrative in der Postmoderne (Welsch, Keupp, Boeve, Gerkin, Drechsel) erneut betrachtet. Als weiterführend wird besonders Boeves Konzept des open narrative – also der wohl einzigartigen und historisch verankerten, doch nicht in sich ge­schlossenen, sondern auf das Eschaton hin offenen christlichen Tradition – hervorgehoben. Die Sichtung einiger aktueller Seelsorgeentwürfe unter dem Aspekt ihres Umgangs mit dem Thema der Brüchigkeit runden die Ausführungen ab. Die in diesem Abschnitt erhobenen zentralen Stichworte sowohl biographischer wie reli­-giös tradierter Narrative – die »Fragmentarität« (infolge der Brüchigkeit), die »Vorläufigkeit« (infolge der unabgeschlossenen Entwicklung im Lebensprozess auf dieser Welt) und die »Abhängig­- keit« (infolge des bleibenden Verwiesenseins auf den »anderen«) – sucht und findet die Vfn. nicht überraschend und zu Recht bei ihrer theo­logischen Bezugsgröße Bonhoeffer, vor allem in dessen Haftbriefen. Insbesondere für den religionspluralistischen Kontext sieht sie diese Bezugnahme als chancenreich.
Bei Bonhoeffer werde zunächst die Fragmentarität menschlicher Existenz als in Gottes am Kreuz erwiesener Brüchigkeit aufgehoben gekennzeichnet; die Vorläufigkeit menschlicher Selbst-erkenntnis stehe der immer nur vorläufigen Gotteserkenntnis ge­genüber, und dieses bleibende Geheimnis Gottes wie des Menschen könne ausgehalten werden im Vertrauen auf eine letzte Verankerung in Gott. Die Abhängigkeit vom unverfügbaren anderen wiederum finde eine Entsprechung im Verwiesensein auf andere (»Dasein-für-andere«). Die so gekennzeichneten Narrative sollen »einen Beitrag zur Bestimmung der Zieldimension einer im Be­gleitprozess vertieften Spiritualität [leisten], die sich an einer kreuzestheologisch bestimmten Dynamik orientiert« (228).
Zu dem Aspekt der Kreuzförmigkeit aller christlichen Existenz trete die unverzichtbare ekklesiologische Verankerung geistlicher Begleitung und mystagogischen Lernens hinzu; Letzteres soll ermöglichen, dem Bild, der »Ikone« Christi (im Gegensatz zu einem »Idol«, das auf etwas Diesseitiges festlegen würde) gleichgestaltet zu werden.
Die abschließenden »Skizzen eines Modells Geistlicher Begleitung in der Postmoderne« bündeln alles zuvor Bedachte und ma­chen zugleich den sehr kunstvollen Aufbau der Arbeit nochmals erkennbar, in dem jedem Kapitel des Teils A (Geistliche Begleitung in der Postmoderne) ein entsprechendes Kapitel im Teil B (Entwurf einer Mystagogik der Geistlichen Begleitung im Anschluss an Diet­rich Bonhoeffers Briefe aus der Haft) zuzuordnen ist. Freilich er­schwert die aufgewandte Kunstfertigkeit zuweilen die Lektüre nicht unerheblich und lässt die Darstellung hermetisch wirken. Die im Anhang abgedruckte hilfreiche Übersicht über die Leitsätze der Arbeit macht die Symmetrie der Gliederung anschaulich und wiederholt die zentralen Einsichten.