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Ausgabe:

September/2013

Spalte:

1013–1015

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Galles, Paul

Titel/Untertitel:

Situation und Botschaft. Die soteriologische Vermittlung von Anthropologie und Christologie in den offenen Denkformen von Paul Tillich und Walter Kasper.

Verlag:

Berlin: De Gruyter 2012. XIV, 587 S. = Tillich Research, 3. Geb. EUR 99,95. ISBN 978-3-11-029180-3.

Rezensent:

Gunther Wenz

Wenigen philosophischen Werken war eine solch nachhaltige Wirkung beschieden wie Friedrich Wilhelm Joseph Schellings »Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände«, die 1809 im Verbund mit frühen Werken zum ersten Mal gedruckt erschienen sind. Nach Urteil Martin Heideggers handelt es sich bei der Freiheitsschrift um »Schellings größte Leistung […] und zugleich eines der tiefsten Werke der deutschen und damit der abendländischen Philosophie« (M. Heidegger, Schelling: Vom Wesen der menschlichen Freiheit [1809], Frankfurt a. M. 1988 [Gesamtausgabe II. Abteilung: Vorlesungen 1919–1944. Bd. 42], 3). Indem sie in sein Zentrum führe, treibe sie »den deutschen Idealismus von innen her über seine eigene Grundstellung hinaus« (a. a. O., 6), um das weite Feld dessen zu erschließen, was der späte Schelling positive Philosophie nennen wird. Im Unterschied zum Apriorismus reiner Denkbestimmungen, wie er die sog. negative Phi­losophie kennzeichne, sei die positive aufgeschlossen für das Andere der Vernunft, für Mythologie und Offenbarung und für eine Aposteriorizität, die sich nicht unmittelbar dem Begriff füge und doch begriffskonstitutive Bedeutung habe.
Schellings, wenn man so will, metaphysischer Empirismus markiert die Vollendung und das Ende des Deutschen Idealismus. Diese Grundannahme teilten mit Heidegger und anderen auch Paul Tillich und Walter Kasper, was Paul Galles in seiner im Winter­semester 2010/11 vom Fachbereich Systematische Theologie der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom angenommenen Dissertation (Doktorvater: E. Salmann OSB) zum Anlass nimmt, die Denkformen des Protestantismustheoretikers mit denjenigen des katholischen Theologen, Bischofs und Kardinals unter dem Ge­sichtspunkt soteriologischer Vermittlung von Anthropologie und Christologie und unter ständiger Bezugnahme auf Schelling zu vergleichen.
Beide, Tillich und Kasper, haben dem Vollender des Deutschen Idealismus, wie Walter Schulz ihn nannte, je eigene Studien gewidmet: Tillichs Inauguraldissertation zur Erlangung der theologischen Lizentiatenwürde thematisierte »Mystik und Schuldbewusstsein in Schellings philosophischer Entwicklung« (1912); die philosophische Doktorwürde wurde zuvor schon mit einer Ab­handlung über »Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzungen und Prinzipien« (1910) erlangt. Kaspers Schellingarbeit trägt den signifikanten Titel: »Das Absolute in der Geschichte. Philosophie und Theologie der Geschichte in der Spätphilosophie Schellings« (1965). G. kann zeigen, dass das frühe Schellingstudium das Denken sowohl Tillichs als auch Kaspers maßgeblich und durchgängig geprägt hat, so dass es naheliegt, beider Konzeptionen vom Schellingschen tertium comparationis her zu vergleichen. Die literarische Grund­-lage des Vergleichs bilden im Falle Tillichs vorzugsweise die drei Bände der »Systematischen Theologie«, die in den Jahren seit 1951 in englischer Sprache, seit 1955 in deutscher Übersetzung erschienen ist, im Falle Kaspers die beiden Klassiker »Jesus der Christus« von 1974 und »Der Gott Jesu Christi« von 1982.
Die Dissertation von G. enthält vier Teile, wobei die zentralen Abschnitte zu den soteriologischen Ansätzen von Tillich (67–273) und Kasper (274–476) ihrerseits viergliedrig verfahren: »nach den methodologischen Grundlegungen werden jene philosophischen Bedingungen geklärt, die in einem dritten Schritt die konkrete Verbindung von Christologie und Anthropologie, Botschaft und Situation orchestrieren; in einem vierten Teil wird abschließend eine kritische Bilanz gezogen« (23). Sie führt in Bezug auf Tillich zu dem zentralen Einwand, dieser habe entgegen seiner ursprünglichen Intention der geschichtlichen Kontingenz und »Positivität« der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus, welche der Geist er­schließt, nicht jene Bedeutung beigemessen, die ihr sachlich gebühre. Seine Theologie drohe daher in den Apriorismus reiner Gedankenkonstruktionen zurückzufallen und der Unableitbarkeit des geschichtlichen Offenbarungsdatums in seiner absoluten Faktizität nicht hinreichend Rechnung zu tragen. Genau an diesem Punkt wird Kaspers Ansatz zur Geltung gebracht, der die Unvordenklichkeit des Freiheitsgeschehens der göttlichen Offenbarung just dadurch wahre, dass er einen Begriff ihrer Unbegreiflichkeit entwickle, dem seine Selbstbescheidung bzw. seine Selbsttranszendenz nicht zum Mangel gereiche, sondern zur Erfüllung seiner begrifflichen Bestimmung.
Wie immer man das durch eine einleitende Problemdarstellung und geistesgeschichtliche Kontextualisierung vorbereitete (1–31) sowie durch einen resümierenden Schlussteil abgesicherte (496–544) Ergebnis von G.s sehr breit angelegter Untersuchung unter spezifischen Gesichtspunkten der Tillich- und Kasperinterpretation beurteilen mag: In jedem Fall kann es zur intensiveren Be­schäftigung mit jener Frage motivieren, welche als die Zentral­frage jeder Theologie zu gelten hat, die ihren Namen verdient, nämlich was unter Vernunft und Offenbarung jeweils zu verstehen ist und wie sich beide zueinander verhalten. Dass in dieser Hinsicht im Umkreis Schellings und des Deutschen Idealismus auch heute noch viel – sehr viel! – zu lernen ist, hat G. am Beispiel von Tillich und Kasper überzeugend aufgewiesen. »Die Fragen des Deutschen Idealismus sind […] keineswegs erledigt« (11), sondern im Gegenteil nach wie vor höchst aktuell.
Kant, Fichte, Schelling und Hegel bzw. Hegel und Schelling – Schleiermacher nicht zu vergessen: Die Problemkonstellationen, die durch Namenssequenzen wie diese benannt sind, verdienen es, theologisch ernsthaft und sorgfältig wahrgenommen zu werden. In Teilen der Gregoriana scheint man zu dieser Einsicht gelangt zu sein, was nicht zuletzt in ökumenischer Hinsicht zu schönen Hoffnungen Anlass gibt. Manch einer, der im langen 19. Jh. als evangelischer Deutscher nach Rom zog, tat dies in der alleinigen Absicht, sich in seinem Antikatholizismus zu bestärken. Dies traf insbe­sondere für Gottesgelehrte zu. Im 20. Jh. entspannte sich die Lage: Selbst dezidiert protestantische Theologen wie Paul Tillich »kommen in Rom nicht über den mit dem Baedeker bewaffneten Tou­ris­ten hinaus« (M. Wallraff u. a. [Hrsg.], Rombilder im deutschsprachigen Protestantismus. Begegnungen mit der Stadt im »langen 19. Jahrhundert«, Tübingen 2011, 133 f.).
Bleibt zu hoffen, dass sich im Laufe des 21. Jh.s an der Gregoriana und anderwärts Begegnungen einstellen, wie G. sie zwischen Tillich und Kasper auf Schellingscher Grundlage arrangiert hat.