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Ausgabe:

September/2013

Spalte:

1011–1013

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Dalferth, Ingolf U., u. Simon Peng-Keller[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Grundvertrauen. Hermeneutik eines Grenzphänomens.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2013. 230 S. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-03021-7.

Rezensent:

Reiner Marquard

Diese Publikation dokumentiert das dritte Projekt einer Trilogie über eine »Hermeneutik des Vertrauens«. Erschienen sind bereits die beiden Studienbände, die der »Kommunikation des Vertrauens« (Leipzig 2012, rezensiert in ThLZ 138 [2013], 5, 598 f.) und dem »Gottvertrauen« (Freiburg 2012, rezensiert in ThLZ 138 [2013], 5, 596–598) gewidmet sind. Der dritte Band befasst sich mit dem Grenzphänomen »Grundvertrauen« und ist Teil des an der Universität Zürich angesiedelten inter- und transdisziplinär angelegten Forschungsprojekts »Vertrauen verstehen. Grundlagen, Formen und Grenzen des Vertrauens«.
Die Herausgeber gehen von typischen Konzeptionsmodellen des Grundvertrauens aus: Das entwicklungspsychologische Konzept eines Urvertrauens ist orientiert am Aufbau eines stabilen Grund- und Selbstvertrauens, das begründungstheoretische Konzept des Grundvertrauens hebt ab auf die vertraglich nicht regelbare, aber für das Zusammenleben konstitutiv notwendige Vertrauenskultur in der Alltagskommunikation und die fundamentalanthropologischen und lebensphänomenologischen Konzeptionen eines existentiellen Grundvertrauens bzw. eines lebensgeschichtlich ab­bildbaren Hintergrundvertrauens reflektieren das Vertrauen als Welt-, Seins- oder Lebensvertrauen – auch und gerade im Modus gelingender und misslingender Vertrauensverhältnisse. Alle Konzeptionen stehen in sich und zueinander in Abgrenzung zu Konzepten des basalen Sicherheitserlebens und im Kontrast zu Gegen-Konzeptionen fundamentalen Misstrauens und/oder ontologischer Ungewissheit.
Psychologie, Soziologie, Philosophie und Theologie verweisen in ihren unterschiedlichen hermeneutischen Zugängen auf Un­terscheidungen und Beziehungen, die bislang noch nicht hinreichend durch Forschung und Diskurs beachtet worden sind. Es fehlt ein kohärentes Verständnis von Vertrauen! Dabei ging das Projekt von der zu überprüfenden Arbeitshypothese aus, dass das sog. Grundvertrauen ein eingrenzbares Phänomen sei. Mit diesem Band wollen keine abschließenden Antworten auf eine umfassende phänomenologische und/oder empirische Definition von Grundvertrauen gegeben werden, aber eine transparente Spur in dieses Untersuchungs- und Reflexionsfeld ist gelegt. Der Gewinn dieses Bandes liegt vornehmlich darin, dass alle, die aus dem Phänomen des Grundvertrauens ihren Nektar zu gewinnen suchen, durch die hier vorgetragene inter- und transdisziplinäre Sichtweise vor der Versuchung monothematisch fixierter Engführungen bewahrt werden und horizonterweiternd den jeweils anderen Aspekt mit zu bedenken lernen.
Ist Grundvertrauen (in Unterscheidung zum Grundvertrauen als Sonder- oder Grenzfall des Vertrauens) wirklich ein Phänomen an sich? Und – falls es dieses Grundvertrauen ›gibt‹- unter welcher konzeptionellen Vorgabe ließe sich ein »Beschreibungsgewinn« attestieren? Deshalb werden zum einen jene Disziplinen ins Gespräch gebracht, die sich mit diesem Phänomen in besonderer Weise befasst haben, und zum anderen sollte die hermeneutische Abklärung verschränkt werden mit einer empirischen Untersuchung, »die zeigen sollte, ob sich das fragliche Phänomen mit empirischen Mitteln aufweisen lässt, bzw. ob sich aus einem solchen Zugang auch Einsichten für die hermeneutische Reflexion ergeben« (10 f.).
Die Absteckung des Frage- und Forschungsfeldes (I: Hermeneu­tische Grundlagen) übernehmen zwei Beiträge (Simon Peng-Keller/ Ingolf U. Dalferth und Peng-Keller), in denen unterschiedliche Wei- ­sen des Grundvertrauens dargestellt werden. Grundvertrauen tritt zuweilen auf »als Säkularisat des Gottvertrauens« (11; vgl. 24. 61.203). Der zweite Beitrag fragt nach Herkunft und Metaphorik der Wortprägung Grundvertrauen/Grund und rekonstruiert unterschied­liche Traditionslinien. Der empirische Teil des Bandes (II: Psy­cho­-lo­gische-empirische Vertiefungen) bringt in einer theoretischen Einführung (Brigitte Boothe) das entwicklungspsychologische Konzept Eriksons zusammen mit der Bindungstheorie von Bowlby und Ansätzen der jüngeren Kindheitsforschung. Petra Meibert/Johannes Michalak tragen ihre Überlegungen zur Phänomenologie von Grundvertrauen vor und skizzieren daraufhin ihre empirischen Messinstrumente (Fragebogen inklusive Item-Generierung), die Eva­luationsschritte und den Ausblick auf eine Interventionsstudie. Es folgen Anfragen an den Konzeptgedanken des Grundvertrauens (III: Kritik und Alternativen). Martin Endreß spricht vom »fungierenden« Vertrauen, das im wesentlich durch einen »unthematischen Charakter« bestimmt ist. Arne Grøn versteht Grundvertrauen nicht als bestehende Ressource, auf die man sich rückbezüglich oder im Vorgriff affirmativ beziehen könnte, sondern als Wagnis und Vollzug. Grundvertrauen wird definiert als Chiffre dafür, dass Vertrauen »für die Selbstwerdung und das menschliche (Zusammen-)Leben grundlegend und unersetzbar ist«. Abschließend werden (IV:) Dif­-ferenzierungen und Erweiterungen der drei eingangs vorgetragen Konzeptionen vorgetragen. Für Emil Angehrn ist Vertrauen eingebunden in die Dynamik von Sicherheit und Angst und schwingt zwischen entsicherndem Wagnis und fundierender Selbststabilisierung. Dalferth untersucht die Differenz zwischen Grund- und Gottvertrauen. Grundvertrauen verleiht dem Gewohnten auch und gerade im Gegenüber zu seinen Gefährdungen durch das Ungewohnte oder Ungeordnete Beständigkeit. Gottvertrauen ist demgegenüber kein Amalgam des Gewohnten, sondern tritt unplanbar und insofern überraschend in ein Leben ein – nicht als chaotische Macht der reinen Unordnung, sondern als »neues Licht« (14), das erhellt und insofern orientiert. Grundvertrauen bildet dann jene Fähigkeit ab, die als Kraft des Unterscheidens zwischen Vertrauen und Misstrauen hilft, den jeweiligen Herausforderungen lebensdienlich zu begegnen. Peng-Keller schließt den IV. Teil und damit den Band mit der Präzisierung ab, Grundvertrauen als Lebens­-modus nicht billigerweise mit dem Bestreben nach Sicherheit zu verwechseln. Umgekehrt muss sogar gelten, dass sich Grundvertrauen gerade dort erweist, wo elementare Sicherheiten im Ereignisbruch entbehrt werden. Am Beispiel von Alfred Delp und Diet­rich Bonhoeffer tritt zutage, dass Grundvertrauen eine Form des Gottvertrauens sein kann – aber nicht muss.
Grundvertrauen kann demzufolge verstanden werden als Lebensmodus »akzeptierter Verletzlichkeit« (212 u. ö.) und kann biographischen Erschütterungen einen lebensdienlichen Resonanzboden geben. In diesem Zusammenhang kann Grundvertrauen eine Manifestationsform des Gottvertrauens sein. In keinem Fall aber tritt das Grundvertrauen automatisch als an Religion gekoppelter Lebensmodus in Erscheinung. In jedem Fall muss man um des Grund- und Gottvertrauens willen das Vertrauen abgrenzen gegen die Vorstellung vom basalen Sicherheitserleben. Grundvertrauen wirkt nicht magisch. Recht verstanden führt es ein in die Kunst der Unterscheidung (201 ff.). Wo ist Vertrauen bzw. Misstrauen angebracht? In der Fähigkeit, im Unterscheiden eine Position setzen zu können, verortet sich der Akteur der Unterscheidung im Grundvertrauen. In diesem Akt erschließt sich das Grundvertrauen auch und gerade praktisch als Lebensmodus.