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Ausgabe:

September/2013

Spalte:

1001–1005

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Nüllmann, Heiko

Titel/Untertitel:

Logos Gottes und Logos des Menschen. Der Vernunftbegriff Joseph Ratzingers und seine Implikationen für Glaubensverantwortung, Moralbegründung und interreligiösen Dialog.

Verlag:

Würzburg: Echter 2012. 527 S. = Bonner Dogmatische Studien, 52. Geb. EUR 58,00. ISBN 978-3-429-03514-3.

Rezensent:

Gunther Wenz

Nach Auffassung Benedikts XVI. »sollte man mit Einordnungen eines Papstes, ob er bedeutend oder unbedeutend ist, zu seinen Lebzeiten immer sehr zurückhaltend sein« (Benedikt XVI., Licht der Welt. Der Papst, die Kirche und die Zeichen der Zeit. Ein Gespräch mit Peter Seewald, Freiburg/Basel/Wien 2012, 37). Dieses berechtigte Votum muss nicht daran hindern, Joseph Ratzinger schon jetzt einen bedeutenden Theologen zu nennen. Zu seinen lebenslangen Anliegen gehörte es, die differenzierte Einheit von Glauben und Wissen geltend zu machen. Sein Plädoyer für die Vernunft des Glaubens war dabei nicht erst bei seiner Rede zur Eröffnung des Konklaves, aus dem er als römischer Pontifex hervorging, mit scharfer Polemik gegen die sog. Diktatur des Relativismus und gegen eine »neue Intoleranz« (a. a. O., 71) verbunden, die angeblich »im Namen der Toleranz die Toleranz« (a. a. O., 72) abschafft, weil sie entweder die Wahrheitsfähigkeit des Menschen in Abrede stellt oder Vernünftigkeit mit der gerade in Geltung stehenden Durchschnittsmeinung gleichsetzt. »Es ist sehr wichtig«, so der zurück-getretene Papst, »dass wir uns einer solchen Absolutheitsforderung einer bestimmten Art von ›Vernünftigkeit‹ widersetzen« (a. a. O., 73).
Vernunft ist nach Benedikt XVI./Joseph Ratzinger weder mit dem gleichzusetzen, was »man« aktuell dafür hält, noch auf das empirisch Erkennbare zu reduzieren. Vielmehr seien Transzendenzbezug und Hinordnung auf einen allumfassenden Einheitsgrund, der Selbst und Welt fundiere und beide auf ein letztes Sinnziel ausrichte, für die Vernünftigkeit der Vernunft konstitutiv. In dieser Grundannahme bestehe zwischen Jerusalem und Athen, zwischen dem universalen Toramonotheismus des Alten Testaments und der Ontotheologie der griechisch-römischen Antike völlige Übereinstimmung.
Religion und Rationalität gehören nach Ratzinger in Judentum und Griechentum sowie nachgerade im Christentum zusammen, das beide Traditionen synthetisch in sich vereine. Mit diesem Hinweis ist die Thematik umschrieben, die N. in seiner im Wintersemester 2011/12 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum als Dissertation angenommenen Mo­nographie behandelt. Als basal wird für Ratzingers Vernunftverständnis folgendes Axiom angesetzt: Zwischen dem Logos des Schöpfergottes und dem Logos des Menschengeschöpfs herrscht ein Analogieverhältnis, in dem zwar, um mit dem 4. Laterankonzil von 1215 zu reden (vgl. DH 806; ferner: 3001.3004.3016.3026), die Un­ähnlichkeiten ungleich größer sind als die Ähnlichkeiten, aber ohne dass dadurch der schöpfungsvermittelte Zusammenhang einer Entsprechung aufgehoben würde. Auf diesem Grundsatz baue alles Weitere auf. »Menschliche Vernunft stellt für Ratzinger […] in erster Linie ein Erkenntnisvermögen für die göttliche Vernunft in der Wirklichkeit dar. Sie kann den Logos Gottes als ihren Ursprung und ihr deshalb immer schon vorgegebenen Bezugspunkt im Sein der Dinge erkennen und muss ihn als solchen annehmen, wenn sie sich selbst als Vernunft verstehen will.« (241) Auf dieser Basis und unter dieser Prämisse wird sodann zwischen menschlichen Er­kenntnisformen differenziert, die sich durch die Art und Weise und den Grad der Intensität ihres Bezogenseins auf den Logos Gottes unterscheiden.
Nach Maßgabe seiner Grundannahmen entfaltet N. in einem umfänglichen ersten Teil seiner Arbeit (21–246) die analogiebegründete Einheit und modal-graduell bestimmte Differenziertheit des Vernunftbegriffs Ratzingers beginnend mit dem, was er positivistische, moralische und ästhetische Vernunft nennt, bis hin zur Vernunft des Glaubens, der in der Christusoffenbarung die Inkarnation des göttlichen Logos in einer geschichtlichen Person wahrnimmt, um ihr in personaler Liebe zu entsprechen. »Diese Bestimmung des christlichen Glaubens verschafft diesem in der Theologie Ratzingers den Status der objektiv wahren Religion. In dem so verstandenen Wahrheitsanspruch gründet Ratzingers Verständnis der christlichen Universalität als metaphysischem Inklusivismus und sein Verständnis von Kirche als Verbindung von Wahrheit und Geschichte.« (244) Wie von selbst ergibt sich aus diesen vergleichsweise überschaubaren Prämissen die Kritik an dem Vernunftbegriff der Moderne bzw. an dem, was Ratzinger N.s Analyse zufolge dafür hält. Das Problem der Moderne bestehe wesentlich darin, »dass die neuzeitliche Philosophie d[en] Ausgriff der menschlichen Vernunft auf eine Vernunft Gottes nicht mehr zulässt« (ebd.). Die für die christliche Antike und weite Teile des Mittelalters bestimmende Synthese von Vernunfterkenntnis und Offenbarung, Glauben und Wissen sei für sie zerbrochen. Der Glaube werde ins bloß Subjektive abgedrängt, das Wissen schränke sich auf das positiv Gegebene ein mit der Folge einer Verabschiedung metaphysischen Denkens. Man kann fragen, ob diese Beschreibung etwa in Bezug auf die Systeme des Deutschen Idealismus oder vergleichbare Theorieprogramme Bestand haben kann. Aber Fragen dieser Art werden von Ratzinger N. zufolge nicht gestellt; es bleibt vielmehr bei eher pauschalisierenden Feststellungen.
Ob die zahlreichen Feststellungen, die in Bezug auf neuzeit­liches Denken sehr stark verallgemeinern und nur wenig differenzieren, wirklich einseitig zulasten Ratzingers und nicht zum Teil zulasten seines Interpreten gehen, darüber kann gestritten werden. Offenkundig ist, dass sie spätestens dann zu Pauschalurteilen werden, wenn es um die Ursachenforschung für das Dilemma der Neuzeit infolge des Auseinanderfalls von Glaube und Vernunft (vgl. 186 ff.) sowie um die als reduktionistisch qualifizierten Reaktionen der Theologie auf den vermeintlichen Verlust metaphysischen Denkens geht (vgl. 220 ff.). Man überzeuge sich selbst und lese beispielsweise, wie auf S. 221 f. in wenigen Zeilen Voluntarismus, Reformation und die von Karl Barth initiierte Bewegung der Dialektischen Theologie abgehandelt bzw. abgeurteilt werden. Friedrich Schleiermacher, Adolf von Harnack, Rudolf Bultmann, aber auch Karl Rahner ergeht es nicht besser, bis schließlich, nachdem die Vorgenannten und andere mehr oder minder im Vorbeigehen zur Strecke gebracht sind, unter der Überschrift »Weitung der Vernunft« Ratzingers Lösungsansatz für die Krise der Vernunft zur Darstellung gebracht wird. Damit und mit einer knappen Zusammenfassung seiner Resultate endet der erste und grundlegende Teil der Untersuchung von N. Im Zentrum der Analyse steht der Vernunftbegriff Ratzingers in seiner inneren Einheit. Das hindert nicht, eine Entwicklung »von einem mehr heilsgeschichtlich orientierten Denken hin zu einem metaphysisch orientierten Denken« (16) namhaft zu machen, wie sie sich seit den späten 60er Jahren u. a. infolge der Erfahrungen mit der sog. Studentenrevolution abzeichne: »Stellte er (sc. Ratzinger) zuvor weitgehend den Glauben an den Anfang der Erkenntnis und sah diesen mit den Einsichten der Vernunft in Einklang, so rückt er später die glaubensunabhängige Einsicht der Vernunft in die Vernunft des Schöpfers in den Vordergrund, auf die sich der Glaube dann im Nachhinein beziehen kann.« (245) Mal stützt sich die Vernunft auf den Glauben, ein andermal im Handumdrehn der Glaube auf die Vernunft; so einfach stellt sich die Angelegenheit bei Ratzinger dar - jedenfalls ge­mäß der Darstellung von N.
Nach einer groben Skizze der geschichtlichen Entwicklung des philosophischen Vernunftbegriffs versucht N. im zweiten Teil seiner Arbeit denjenigen des ehemaligen Papstes philosophie­geschichtlich einzuordnen, wobei das Denken Ratzingers vergleichsweise vage als spekulativ im Sinne eines metaphysischenRatio­nalismus vornehmlich platonisch-augustinischer Proveni­enz cha­rakterisiert wird. Recht unvermittelt stellen sich sodann heftige Kritik und scharfer Tadel ein. N. konstatiert, »dass Ratzinger, anstatt den Schritt der neuzeitlichen Vernunftkritik aus guten Gründen mitzuvollziehen, unter Missachtung dieser Gründe eine Rückkehr zur spekulativen Vernunft fordert und damit zur An­nahme, objektive Wahrheit in der Wirklichkeit erkennen zu können« (316). Notorisch werde verkannt, dass die neuzeitliche Vernunftkritik die Vernunft nicht zerstören, sondern retten wolle und damit die gleiche Intention verfolge wie Ratzinger selbst. »Ge­nau wie auch Kant will er die subjektive Vernunft des Menschen vor dem Skeptizismus und dem Dogmatismus bewahren.« (312) Rat zinger allerdings scheint blind für diese Parallele zu sein. Als Grund für seine Verblendung wird mangelnde Einsicht in die in­nere Aporetik vorneuzeitlicher Vernunftspekulation angegeben, der er sich dadurch entziehe, dass er als Vernunftmetaphysik ausgebe, was in Wahrheit Glaubensmetaphysik sei. Ratzinger verwische permanent »die Grenze zwischen dem Glauben und dem von diesem Glauben unabhängigen Vernunftvermögen des Menschen« (321). Er könne seinen spekulativen Vernunftbegriff platonischer Prägung »nur deshalb heute aufrechterhalten […], weil er durch die Verbindung mit dem christlichen Glauben vor den Aporien der spekulativen Vernunft geschützt werde« (322). Die mit großem Wahrheitspathos vorgetragene Synthese von Wissen und Glauben werde in Wirklichkeit durch Verwischung des Unterschieds zwischen beiden erschlichen.
Mit diesen Verdikten scheint Ratzingers Denken ebenso erledigt zu sein wie das seiner Theologenkollegen gegen Ende des ersten Teils der Studie. Doch offenbar ist der Stab noch nicht endgültig gebrochen; soll es doch erst im dritten und vierten Teil um eine kritische Würdigung (323–387) und um eine diesbezügliche Darstellung des Forschungsstandes (389–468) gehen. In der Sache erbringen die beiden Teile allerdings nichts Neues, jedenfalls keine argumentativen Fortschritte. Thema sind zunächst die im Untertitel der Arbeit benannten Implikationen des Vernunftbegriffs Ratzingers für Glaubensverantwortung, Moralbegründung und interreligiösen Dialog. Gewürdigt werden in einer für einen Denker wenig schmeichelhaften Manier Ratzingers Intentionen, die an sich zu begrüßen seien, deren gedankliche Realisierung allerdings aporetisch bleibe. Es wird wiederholt, dass Ratzingers Verhältnisbestimmung von Glauben und Vernunft »nicht zufriedenstellend ist und (seinen) eigenen Ansprüchen an das Verhältnis von Glaube und Vernunft in einigen Punkten sogar zuwiderläuft« (371 f.). Zwar sei die Absicht, eine Analogie von Logos Gottes und Vernunft des Menschen aufzuweisen, im Prinzip begrüßenswert, um eine Entkoppelung von Glauben und Wissen, Vernunft und Offenbarung zu vermeiden. Aber gelungen sei Ratzinger dieser Aufweis nicht. Die Art und Weise seiner Bestimmung der gottmenschlichen Logosanalogie vermöge weder philosophisch noch theologisch zu überzeugen: »Philosophisch nicht, weil sie auf einen spekulativen Vernunftbegriff zurückgreifen muss, der sich in der Philosophiegeschichte als aporetisch erwiesen hat. Theologisch nicht, weil in dieser Konzeption der Schöpfungslogos und der Offenbarungslogos Gottes erkenntnistheoretisch auseinanderfallen« (375). In der Darstellung des Forschungsstandes bestätigt sich N. die Richtigkeit dieses Befundes und die Kriterien seiner Urteilsbildung, die in Kritik und Konstruktion den Maßstab seiner Ausführungen bilden.
Bleibt hinzuzufügen, dass im fünften und letzten Teil der Arbeit ein, wie es heißt, »anthropologisch verorteter Vernunftbegriff als Alternative zum Vernunftbegriff Ratzingers aufgezeigt« (387) wird, der einerseits dessen Anliegen integrieren, andererseits die feh-lende Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen Vernunftkritik kompensieren soll. Den Ausgangspunkt bildet das Fazit des Forschungsberichts, wonach »weder ein Offenbarungspositivismus ohne den Aufweis einer Entsprechung göttlicher und menschlicher Vernunft noch der Bezug der Offenbarung zu einer ihr vorgängigen transzendentalen Erkenntnis Gottes im Sinne eines letz ten Horizonts, auf den sich die menschliche Vernunft immer schon bezieht, dem Anspruch Ratzingers gerecht zu werden vermögen« (468). Dies und die Durchführung seiner Intentionen könnte nur durch eine anthropologische Bestimmung des Vernunftbegriffs vom Vollzug sprachlicher Verständigung her geleis­tet werden. Von den Dimensionen der Sprachlichkeit aus erschließe sich ein (inter)personaler Vernunftbegriff, der offen sei für Un­bedingtheitserfahrungen, ohne ihre Tatsächlichkeit logisch-begrifflich gewährleisten zu können. »Tatsächlich ist die Frage nach der Existenz des Unbedingten sowohl angesichts menschlicher Erfahrungen unbedingter personaler Anerkennung als auch angesichts der Einsicht in die notwendige Bedingtheit menschlicher Lebensvollzüge theoretisch nicht zu entscheiden und muss deshalb phi­losophisch offen bleiben. Wie gesehen, hatte bereits Kant die Denkbarkeit des Unbedingten als eine notwendige Voraussetzung für den Vollzug menschlicher Vernunft verstanden, gleichzeitig aber festgestellt, dass seine faktische Erkennbarkeit der Vernunft entzogen bleibt. Dieser Einsicht der neuzeitlichen Vernunftkritik wird Ratzingers Konzeption nicht gerecht, weil sie ausgehend von der lebenspraktischen Erfahrung von Unbedingtheit in Anlehnung an die griechische Philosophie auch begrifflich-theoretisch die Er­kennbarkeit der Existenz eines Unbedingten behauptet.« (487) Zu welchen Folgerungen sich N. von hier aus in Bezug auf das Verhältnis von Logos Gottes und Logos des Menschen veranlasst sieht, wird in einem abschließenden Abschnitt (vgl. 488 ff.) unter erneuter Konzentration auf die im Untertitel der Arbeit genannten Themen Glaubensverantwortung, Moralbegründung und interreli-giöser Dialog geltend gemacht.
In seiner Amtszeit beklagte Benedikt XVI. gelegentlich, dass es »im katholischen Deutschland eine beträchtliche Schicht gibt, die sozusagen darauf wartet, auf den Papst einschlagen zu können« (Benedikt XVI., 153). N. gehört nicht zu dieser Schicht; seine Analyse ist insgesamt durchaus wohlwollend und verständigungsorientiert. Schlagend ist seine Kritik an Joseph Ratzingers Vernunftbegriff gleichwohl, wenn sie auch nur teilweise zutrifft. Denn sie legt nahe, dass die nicht selten ins Prinzipielle gesteigerte Reserve des ehemaligen Papstes gegenüber Aufklärung und säkularisierter Mo­derne mit einem Mangel an Verständnis für bedeutende neuzeitliche Vernunftkonzeptionen im Stile beispielsweise Kants zu tun hat. N. würdigt einerseits den Vernunftbegriff Ratzingers und stellt die Vernünftigkeit dieses Begriffs andererseits radikal in Frage. Was bleibt, ist ein Problem, das durch N.s abschließende Skizze einer eigenen Vernunftkonzeption auch nicht annähernd gelöst wird.