Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2013

Spalte:

999–1001

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Müller-Lüneschloß, Vicki

Titel/Untertitel:

Über das Verhältnis von Natur und Geisterwelt. Ihre Trennung, ihre Versöhnung, Gott und den Menschen. Eine Studie zu F. W. J. Schellings ›Stuttgarter Privatvorlesungen‹ (1810) nebst des Briefwechsels Wangenheim-Niederer-Schelling der Jahre 1809/1810.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog 2012. 316 S. = Spekulation und Erfahrung. Texte und Untersuchungen zum Deutschen Idealismus, II/59. Lw. EUR 78,00. ISBN 978-3-7728-2621-4.

Rezensent:

Patrick Leistner

Die Stuttgarter Privatvorlesungen, die Schelling im Februar und Juli 1810 vor einem kleinen Hörerkreis im Hause des Oberjustizrates Eberhard Friedrich von Georgii abhielt, werfen seit ihrer Veröffentlichung aus dem Nachlass des Philosophen wichtige Fragen auf: Inwiefern repräsentieren sie den Stand der Philosophie Schellings im Jahre 1810? Welche Bedeutung ist den historischen Um­ständen beizumessen? Wie ist der von der Forschung eher wenig beachtete Text werkgeschichtlich zu bewerten und einzuordnen? Die 2012 veröffentlichte Studie von Vicki Müller-Lüneschloß, die 2009 an der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation angenommen wurde, nimmt sich dieser Fragen im Rahmen einer eingehenden Analyse der Stuttgarter Privatvorlesungen an.
Die Vfn. gliedert ihre Arbeit in einen historischen Teil (21–136), der sich einerseits der »Textphilologie« der Vorlesungen widmet (21–33). Andererseits analysiert der erste Teil den historischen Kontext der Vorlesungen (35–72). Er wird durch die Edition bislang unveröffentlichter Briefe des Vorlesungsteilnehmers Karl August von Wangenheim an den Schweizer Johannes Niederer, einen Mitarbeiter Johann Heinrich Pestalozzis, sowie eines Briefes Niederers an Schelling und dessen Antwort abgeschlossen (73–136). Der darauf folgende kommentarartige zweite Teil beschäftigt sich mit Textinterpretationen (137–294) und stellt den »Hauptteil« (15) der Studie dar. Er gliedert sich entsprechend den Vorlesungen in Ab­schnitte zum Prinzip der schellingschen Philosophie, zur Naturphilosophie sowie zur »Philosophie der Welt des Geistes« (209) und beinhaltet einen Exkurs zu dem Begriff der »intelligiblen Tat« (233–239). Stellenweise wird auf die Rekonstruktionen zum historischen Kontext der Vorlesungen zurückgegriffen.
Schelling gestaltete die Vorlesungen im Hause Georgii als »philosophische Gespräche« (48). Die heterogen zusammengesetzte Gruppe der Teilnehmer war ein »politisch und intellektuell gebildeter Personenkreis« und repräsentiere – auch mit seinem nicht unkritischen Interesse an Übersinnlichem (56 f.) – das »roman­tische Württemberg im Jahr 1810« (51 ff.). Besonderes Augenmerk richten die Rekonstruktionen zur Hörergruppe auf die »Ankunft der pestalozzischen Pädagogik in Württemberg« (58 ff.), die der im Anhang an den historischen Teil edierte Briefwechsel dokumentiert. Wangenheim konnte schließlich das Interesse Schellings an der Methode – wenn auch vorwiegend an ihrem »wissenschaftlichen Wert« – wecken (63 f.). Die Diskussionen im Hause Georgiis haben sich damit befasst. Im Text der Sämmtlichen Werke und in der Abschrift der Nachschrift Georgiis spiegelt sich dies nicht wider (65).
Wertvoll sind die Hinweise der Vfn. auf die Biographien der Teilnehmer (51–55), auch wenn die Analyse des historischen Kontextes etwa auch die naturphilosophischen und -wissenschaftlichen Interessen der Teilnehmer stärker in den Blick hätte nehmen können. Die Ärzte Storr und Jäger (vgl. 51, Anm. 37) dürften zu denjenigen Hörern gehören, »die mit den physikalischen Erscheinungen bekannt sind« (SW I,7, 440). Die Hinweise zur Bedeutung der Religion der Teilnehmer, des württembergischen Pietismus sowie der politischen Gesinnung und Praxis der Teilnehmer sind (im Hinblick auf den Inhalt der Vorlesungen) relativ kurz.
Eindrucksvoll dokumentiert das erstmals veröffentlichte Schreiben Wangenheims an Niederer (Ende Juli 1810, 101–113), wie stark die Teilnehmer Georgii und Wangenheim über Schellings und Eschenmayers Religionsphilosophie und philosophische Theologie im Anschluss an deren Debatte von 1803 ff. diskutierten und sich diese persönlich aneigneten. Schelling und Eschenmayer ga­ben hier Stellungnahmen ab.
Der zweite Teil der Studie, der sich mit »Textinterpretationen des Systementwurfs von 1810« (139) beschäftigt und dessen »Einordnung im Gesamtwerk des Philosophen« (15) beabsichtigt, fokussiert im ersten Abschnitt (139–191) zunächst auf den schon in der Freiheitsschrift präsentierten »neue[n] Gottesbegriff« (139), der das »eigentliche Herz« (140) der Vorlesungen sei. Obgleich Schelling auch 1810 noch mit der »absoluten Identität« als Prinzip ein setze und wieder die abstrakte Formelsprache des Identitätssys­tems gebrauche – was 1810 auch aus didaktischen Gründen ge­schehe (vgl. 164 f.) –, sei die absolute Identität aber spätestens durch den in der Freiheitsschrift in das Absolute eingeführten Dualismus umformuliert worden (139). Das Absolute der Identitätsphilosophie habe das »subjektive In-sich des Absoluten […], jedoch nicht sein objektives Sein für Anderes« (150) ausdrücken können. Es habe das eigentliche Leben und Werden des Absoluten nicht erreicht (166 ff.). Der neu konzipierte metaphysische Begriff des Absoluten von 1809 unter dem Leitmotiv »Gott ist Person« arbeite am bislang ungelösten Problem des Überganges von der Identität zur Differenz (140), er lasse dann 1810, nach dem Tod Carolines (welcher in der Studie als wichtigster historischer Hin­tergrund der Vorlesungen angesetzt wird), Schellings Bedürfnis »nach einem solchen Gott [erkennen], der den Menschen nahe ist« (170).
Schellings »doppelter Seins-Begriff« (181) ermögliche, dem vormals als absolute Privation gedachten Realen eine »innere Positivität« (178) zuzugestehen. Die Vorlesungen entwickeln »einen ganz neuen Geschichts-Begriff […] Die Entwicklung der Geschichte wird nicht mehr an der Menschheit orientiert, sondern an der Offenbarung des Absoluten« (161). – In den Vorlesungen liefere Schelling damit »die notwendigen Grundbegriffe« für das »neue System«, das zum »Seins-Entwurf [werde], der die Geschichte aus dem dialektischen Verhältnis der zwei Prinzipien erzählt« (149).
Die »Philosophie der Welt des Geistes« präsentiere dann die wichtigen Neuerungen der Philosophie Schellings. »Das ›Psychologische Schema‹« – das »in seinen Grundzügen bereits 1809 entstanden« (258) sei – »bildet einen, wenn nicht den Höhepunkt des Sys­-tementwurfs von 1810« (211). Der Exkurs zu dem Begriff der »in­telligiblen Tat« (233–239) bietet im Anschluss wichtige Perspektiven von Kants Religionsschrift aus auf das Motiv des Falles in der Philosophie Schellings seit 1792. Die Privatvorlesungen thematisierten die als »Ergreifung des Menschen in der Selbstheit« (237) zu verstehende intelligible Tat nicht als solche, »sondern vielmehr ihre Folge« (239), nämlich »die Trennung der Natur von der Geis­terwelt« (241). Dadurch treten die Themen Kirche und Staat (1810 sei eine »entscheidende Wende in Schellings Staatsdenken« zu einer »negative[n] und desillusionierte[n] Haltung zum Staat« zu beobachten; 248) und die von den Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums von 1802 her zu verstehende Christologie in den Fokus.
Die Studie überzeugt durch genaue Analysen der tragenden Begriffe der Stuttgarter Privatvorlesungen und lässt interessante Perspektiven zur Einordnung derselben in den werkgeschichtlichen Zusammenhang erkennen. Von besonderem Wert sind die neuen Erkenntnisse zu den historischen Hintergründen der Vorlesungen.