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Ausgabe:

September/2013

Spalte:

997–999

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Lambrecht, Jürgen

Titel/Untertitel:

Transzendenz. Eine systemanalytische Studie.

Verlag:

Würzburg: Königshausen & Neumann 2012. 279 S. Kart. EUR 39,80. ISBN 978-3-8260-4885-2.

Rezensent:

Michael Murrmann-Kahl

Jürgen Lambrecht, ursprünglich medizinischer Mikrobiologe und dann auch Philosoph, geht davon aus, dass es empirisch Transzendenzerfahrungen gibt, die freilich rein individuell, unvorhersehbar und inkommunikabel sind (189). Demnach eignet der Transzendenzphilosophie grundsätzlich ein prekärer Status, da sie auf die Allgemeinheit der Sprache angewiesen ist (95.175 f.). Über diesen Hiatus hinweg können Sprache und Denken nur insoweit gelangen, als sie eine Verweisfunktion auf die Transzendenz erfüllen, ohne sie jemals adäquat zu erreichen (265). Gegenüber der durch die moderne Naturwissenschaft und Technik geprägten, »entzauberten« Welt (7–11) wird dem damit unzufriedenen Menschen im Anschluss an die moderne Quantenphysik (167.266 ff.) Ganzheitlichkeit, Meditation und Mystik empfohlen, die bekannten Instrumente aus dem Zauberkasten der vergangenen »New Age«-Bewegung.
Der Vf. geht dabei so vor, dass er nach einer kurzen Einführung (13–25) und abzüglich der ebenso kurzen Schlussbetrachtung (265–270) in drei Kapiteln die sog. »systemanalytischen Grundlagen« (27–84), darauf eine »Systemanalyse der Transzendenz« (85–167) und schließlich die »Zugangsweisen zur Transzendenz« (169–263) vorführt. Angesichts der Unmöglichkeit, adäquat über Transzendenz zu reden, bleibt nur der Weg übrig, Ex-negativo-Aussagen ausgehend von der »Realwelt« zu bilden. Diese münden freilich in eine »strukturelle Leere« (22 ff.88 ff.191), da alles, was über die empirische Welt zu sagen ist, über die Transzendenz nicht gesagt werden kann. Pate für diese ungegenständliche, alles umgreifende »Seinserfahrung« (Seinsgrund) oder »Große Erfahrung« stehen Karl Jas­pers (21 ff.97.121.180.183 ff.194 ff.) und Graf Dürckheim (24 f.179 f. 201.238 ff.). Will man sich nicht ins Wittgensteinsche Dilemma – »Worüber man nicht reden kann, darüber muss man schweigen.« – manövrieren, muss man versuchen, dennoch zumindest uneigentliche Aussagen über die Transzendenz zu generieren. Darum nimmt der Vf. wort- und zitatreich Zuflucht zur antiken und spätmittelalterlichen, vorkritischen Metaphysik; die drei Gewährsmänner lauten hier Plotin (das Eine, 101–143), Meister Eckhart (Mystik) und Nikolaus von Kues ( coincidentia oppositorum). Im Wesentlichen soll mit Elementen dieser Philosophien der Inhalt der Transzendenzphilosophie bestritten werden, deren Praxis näherhin in drei Schritten verfährt (223 ff.): Die Objekt-Objekt-Spaltung der Realwelt (»Abgeschiedenheit«) und die Subjekt-Ob­jekt-Polarität der Erkenntnisrelation (Verabschiedung der Egozentrizität) müssen überwunden werden, so dass man schließlich an die Schwelle zum Transzendenzbewusstsein gelangt. Die eigentliche Transzendenzerfahrung lässt sich freilich nicht mehr inszenieren, sondern muss sich (passiv) ereignen (237 ff.). Da alle Sprache und religiösen Symbole nur auf Transzendenz verweisen können, mithin einen »Chiffrencharakter« (Jaspers, 183 ff.) haben, ist die Verdinglichung in eine personale Gottheit, die dem Menschen gegenübersteht, ein Selbstmissverständnis religiöser Erfahrung, das allerdings zu Dogmatismus und Fanatismus führen kann (247 ff.). Ein dem Menschen als real gegenüberstehend ge­dachter Gott verbleibt selbst noch innerhalb der Subjekt-Objekt-Polarität: »Gott als distantiales Gegenüber muss überwunden werden, um die transzendente Einheit Gottes zu erfassen.« (235)
Der Vf. will dabei in seinen Ausführungen ausdrücklich an N. Luhmanns Systemtheorie (28 ff.) und Hegels Logik (40 ff.) anknüpfen. Freilich interpretiert er sie in der dominierenden Perspektive einer vorkritischen Metaphysik. Luhmann wäre gewiss ein ironischer Kommentar zur »alteuropäischen« Einheitsmanie gegenüber seiner auf Differenz bedachten Systemtheorie eingefallen. Der entscheidende Punkt ist nicht der Systembegriff als solcher, sondern die leitende Unterscheidung System/Umwelt eines Beobachters. Dem Vf. wäre in seiner Intention mit dem Weltbegriff des frühen Luhmann wohl besser gedient gewesen (siehe 36). Auch die Beteuerung, Hegel habe inhaltlich in etwa dasselbe vertreten wie Plotin, Meister Eckhart und der Kusaner, darf füglich bezweifelt werden. Dagegen spricht zum einen, dass das logische Kontinuum der spekulativen Logik gar keine Transzendenz kennt; in ihr geht es vielmehr darum, die jeweiligen Denkbestimmungen auseinander zu generieren. Darum ist zum anderen der Vf. auch nicht der durchgängigen doppelten Kritik Hegels an den Aufstellungen der traditionellen Metaphysik wie Unendlichkeit, das Eine (bei Hegel eben: das Eins) und das Ganze innegeworden. Diese Kritik zeigt sich erstens an der jeweiligen Verortung einer Kategorie: So sind Unendlichkeit und das Eins bekanntlich seinslogischer, Totalität wesenslogischer Natur. Damit ist aber die für Hegel selbst entscheidende Stufe der Begriffslogik noch gar nicht erreicht. Die viel beschworene »Negation der Negation« ist übrigens kein Universaloperator der Philosophie (gegen 47.99 f.135.225), sondern hat wie auch die Formel von der »Identität von Identität und Differenz« ihren Ort in der Wesenslogik. Diese Kritik zeigt sich zweitens darin, dass die Kategorien wie wahre Unendlichkeit und Totalität Denkbestimmungen sind, die die Fixierung des jeweiligen Ausgangspunktes gerade aufheben. In der »wahren Unendlichkeit« sind, sofern sie denn gedacht wird, Endlichkeit/Nichtendlichkeit nur noch Momente, die eodem actu in sich umgeschlagen sind. Die Totalität umfasst als Reflexionskategorie die negative Einheit des Ganzen und seiner Teile, da diese – wie als selbständig gesetzte – gleichzeitig aufeinander bezogen gedacht werden müssen (vgl. 49 f. 149 ff.). In keinem Fall lässt sich daraus eine Hypostasierung von Unendlichkeit, Einem oder Ganzem im Gang der immanent-logischen Denkbestimmungen ableiten (gegen 57 f.). Darum kann man mit Hegel gerade nicht formulieren: »Das Eine umfasst das Ganze auf einer höheren Ebene.« (151) So denkt vielmehr die vorneuzeitliche Metaphysik. Schließlich entbehrt es nicht einer ge­wissen Komik, dass ausgerechnet der Philosoph zum Kronzeugen dieses Denkens gemacht werden soll, der genau diese Art phi-­lo­sophischer Bescheidenheit durchgängig kritisiert hat. Hegel beschreibt diesen Typus der Transzendenzphilosophie in seiner »Phänomenologie des Geistes« exakt als die unbefriedigte Aufklärung, nämlich als einen Glauben, der »nur das Leere findet« und so »ein reines Sehnen« ist. Diese Form des Glaubens ist selbst von der Aufklärung, die sie überwinden will, affiziert als »Bewusstsein der Beziehung des an sich seienden Endlichen auf das prädikatlose, unerkannte und unerkennbare Absolute«. Hegels eigene Philo­-sophie versteht sich darum konsequenterweise eben nicht als Transzendenzphilosophie (gegen 59 f.81 f. und passim), sondern als Theorie des Absoluten, die dieses als logische Idee und in der Ge­samtdurchführung der »Enzyklopädie« als Geist denkt.