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Ausgabe:

Januar/1999

Spalte:

32–34

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Stolz, Fritz [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Homo naturaliter religiosus. Gehört Religion notwendig zum Mensch-Sein?

Verlag:

Bern-Berlin-Frank- furt/M.-New York-Paris-Wien: Lang 1997. 334 S. 8 = Religiosa Helvetica Jahrbuch, 3. Kart. DM 81,-. ISBN 3-906759-23-7.

Rezensent:

Theo Sundermeier

Der Titel dieser Zürcher Ringvorlesung aus dem WS 1995/96 knüpft an das Diktum "anima naturaliter christiana" Tertullians an und handelt sich damit trotz der modernen Fragestellung all die Probleme ein, die mit ihm durch die Jahrhunderte hindurch gegeben waren. A. Schindler "Von Tertullian bis Drewermann. Ist die Seele von Natur aus christlich? Ein ungewohntes Stück Theologiegeschichte" (167-191) verortet die Herkunft deutlich und zeigt aus theologischer Sicht, in welche Sackgasse man sich mit diesem Thema begibt, was I. U. Dalferth in "Notwendig religiös? Von der Vermeidbarkeit der Religion und der Unvermeidbarkeit Gottes" noch ausdrücklich und in höchst überzeugender Weise unterstreicht. "Religion" ist, post Barth locutum, nun gerade kein Lieblingsbegriff und Kuscheltier deutschsprachiger Theologen, sondern wird vermieden, wo man nur kann. Daß man damit die Sprachbarriere zu anderen Wissenschaften nicht abbaut, sondern verfestigt, macht A. Rust "Der natürliche Kontext der religiösen Sprache" (219-240) unter Hinweis auf Wittgenstein deutlich, um seinerseits, wiederum mit Wittgenstein, erste Schritte zum Brückenbau zu unternehmen.

Damit entspricht er dem zentralen Ziel des ganzen Buches, die verschiedenen Wissenschaftszweige zum Thema Religion so miteinander ins Gespräch zu bringen, daß die unleidliche Diastase zwischen Naturwissenschaftlern und Geistes- resp. Kulturwissenschaftlern überwunden wird und beide durch einen kreativen Diskurs zu neuen Erkenntnissen kommen. Es war ja J. Huxley, der 1965 in einem Symposion "A Discussion on Ritualisation of Behavior in Animals and Man" natur- und kulturwissenschaftliche Fragestellungen miteinander zu verbinden suchte und den aus der Religion stammenden Begriff der "Ritualisierung" mit anderen und unter Rückgriff auf Freud in die Verhaltensforschung einbrachte. Das geschah so überzeugend, daß der Begriff bald eine solch monströse Ausweitung bekam, daß er als Passepartout auf alles und jeden angewandt wurde, was mit repetitivem Verhalten zu tun hat. Gleichzeitig suchte auch die neu gegründete Zeitschrift ZYGON Religion und Religionswissenschaft mit naturwissenschaftlicher Forschung zusammenzuführen. Neurobiologie und Verhaltensforschung sind dabei die Hauptgesprächspartner, die auf dem Boden der sozialen Evolutionstheorie die Bedeutung der Religion für den Menschen eruieren sollen. Die Diskussion von 1965 bis in die 80er Jahre hatte kompetent und prägnant B. Gladigow zusammengefaßt, allerdings so, daß die Religionswissenschaft nicht gerade Lust verspürte, den Diskussionsfaden aufzugreifen.1 Das geschieht nun in diesem Band. Führt er über Gladigows Darstellung hinaus? Kann er schlüssig "beweisen", daß Religion zum Menschsein hinzugehört und sie als "Selektionsvorteil" dem Menschen das Überleben erleichtert hat? Die Fragen müssen verneint werden. Dennoch lohnt es, den Band genau zu lesen.

Für alle diejenigen, die mit dem Thema nicht vertraut sind, bieten die einzelnen Referate nicht nur eine verständliche, übersichtliche Einführung in das jeweilige Sachproblem, sondern geben mit ihren ausführlichen Literaturangaben die Möglichkeit zum weiteren Studium an die Hand. Darüber hinaus vertiefen sie über Gladigow hinaus die Problematik. Zu einer Lösung führen sie nicht. Weder kann W. Burkert aus kulturanthropologischer Sicht darüber entscheiden, ob die Religion im Sinne der Neurobiologie "Fitness oder Opium" (so der Titel seines Aufsatzes, 13-38) für die Menschen bedeutet, noch A. Michaels, ob der neurobiologische Primat im Entstehen von Religionen der Angst zukommt (so das Thema des kenntnisreichen und theologisch reichen Textes des Indologen A. Michaels, 91-136) oder ob schließlich die Religion nur eine "szenische Ergänzung" im Kampf ums gesellschaftliche Überleben der Menschen darstellt (so der religionsgeschichtlich schwache Aufsatz von G. Baudy, 65-90).

Allein der Philosoph G. Wolters ("Evolution als Religion?" 137-166) ist in seiner Antwort eindeutig: Der Mensch kann ohne Religion leben, also - so seine kurzschlüssige Folgerung, auf die Dalferth aus theologischer Sicht eine entsprechend deutliche Antwort gibt - ist der Mensch nicht von Natur aus religiös. War also die Diskussion überflüssig? Ganz sicherlich nicht. Zwar kann man noch immer nicht bestimmte Phänomene der Religionsgeschichte mit Hilfe neurobiologischer Einsichten "erklären", ebensowenig wie man das Phänomen der Religion auf ihre gesellschaftliche Funktionen reduzieren und damit "erklären" kann, wie es lange Zeit im Gefolge von Feuerbach und Durkheim geschah. Dennoch "schärft der evolutionstheoretische Hintergrund den Blick für einige Probleme", resümiert F. Stolz ("Von der Begattung zur Heiligen Hochzeit, vom Beuteteilen zum Abendmahl - kulturelle Gestaltungen natürlicher Prozesse", 39-64) den Diskussionsgang. Darin hat er Recht.

Das Problem aller Referenten und damit des ganzen Buches liegt jedoch darin, daß sie einen uniformen Religionsbegriff verwenden, der dem Phänomen als ganzem nicht gerecht wird. Es ist eben ein Unterschied, ob wir von der Religion in einer Stammesgesellschaft sprechen oder von einer Weltreligion. Das ist nicht nur ein soziologischer Unterschied. Er ist so groß, daß J. Assmann, wie er mir in einem Gespräch vor Jahren sagte, sehr ernsthaft überlegte, ob man überhaupt das, was man in Ägypten unter Religion versteht, mit demselben Ausdruck benennen könne wie das, was z. B. das Christentum oder der Islam damit bezeichnen. Die Differenz zwischen "primärer" und "sekundärer Religion" (eine Unterscheidung, die Assmann inzwischen aufgegriffen hat) ist grundlegend.

Der Zusammenhang zwischen ihnen kann jedoch nicht mit den Kategorien der Evolutionstheorie, welcher Couleur auch immer, verdeutlicht werden. Dafür gibt es keinerlei religionsgeschichtliche Hinweise. Hier müssen andere Kategorien Interpretationshilfen geben.

Seit langem habe ich kein Buch mehr gelesen, das von Hypothesen und Vermutungen so flimmert wie ein Tannenbaum voller Lametta. Unbefriedigend ist die Lektüre dennoch nicht. Der Band reizt zum Widerspruch und hat heuristische Stärken.

Fussnoten:

1) B. Gladigow, Religion im Rahmen der theoretischen Biologie. In: Ders., H. G. Kippenberg [Hrsg.], Neue Ansätze in der Religionswissenschaft, München 1983, 97-112.