Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2013

Spalte:

996–997

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Aus der Au, Christina

Titel/Untertitel:

Im Horizont der Anrede. Das theologische Menschenbild und seine Herausforderung durch die Neurowissenschaften.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011. 277 S. = Religion, Theologie und Naturwissenschaft, 25. Geb. 69,99. ISBN 978-3-525-57019-7.

Rezensent:

Matthias Petzoldt

Mit ihrer 2008 an der Theologischen Fakultät Basel eingereichten Habilitationsschrift schaltet sich die Vfn. in die gegenwärtig vielstimmige und aus dem Blickwinkel sehr unterschiedlicher Disziplinen geführte Menschenbild-Debatte ein. Ihren Diskussionsbeitrag macht sie an den neurowissenschaftlichen Infragestellungen des Selbstbewusstseins und den philosophischen Diskussionen dazu fest. Das besondere Interesse ist dabei auf die Diskussion um die sog. Qualia gerichtet, also auf die Frage nach dem erkenntnistheoretischen und ontologischen Status von Empfindungen und Erlebnissen, ›wie sich etwas für mich anfühlt‹. Hier zeigt sich für die Vfn., wie die Naturwissenschaften mit den Geisteswissenschaften im Streit liegen: Die Dritte-Person-Perspektive (»3PP«) der neurowissenschaftlichen Untersuchungen zielt darauf, die mentalen Phänomene in physikalische und chemische Prozesse aufzulösen; und sie läuft auf eine »Naturalisierbarkeit des Menschen, seiner individuellsten Eigenschaften und seiner privatesten Gefühle, seiner moralischen Verantwortlichkeit, kurz: der Innenseite seines Selbst« hinaus (116). Demgegenüber sehen Philosophinnen und Phi­losophen in den Qualia den privilegierten Zugang des Be­wusstseins zum Selbst, machen damit die Erste-Person-Perspektive (»1PP«) stark und behaupten davon ausgehend »die Unreduzierbarkeit des Subjekts bzw. die Entzogenheit des geistigen Bereichs für den naturalistischen Zugriff« (116).
Die Vfn. versteht es, die verwickelte Debatte an maßgeblichen Diskussionssträngen verständlich auszubreiten und die jeweiligen Denkvoraussetzungen auszuleuchten. Dass sie dann aber das Spektrum der Positionen auf »Qualiafreunde« und »Qualiagegner« zurechtstutzt (237), stellt eine arge Vergröberung dar. In dem von ihr gezeichneten Spannungsfeld möchte sie die Perspektive der zweiten Person (»2PP«) als »die theologische Perspektive« ins Spiel bringen. Sie meint damit in kritischer Rezeption der Denkanstöße von Martin Buber, Eleonore Stump und Emmanuel Lévinas den Menschen in der Relation des Angeredetseins vom Ur-Ich (170 ff.).
In der Tat verdienen die genannten philosophischen Denkanstöße eine größere Beachtung im theologischen Nachdenken der Gegenwart. Aber mit dem Beschreiben des Menschen unter der Anrede und mit dem Reflektieren darauf bewegt sich die Vfn. be­reits in der Diskursivität der 3PP. Der entgeht sie auch nicht, wenn sie barthianisch die Theologie vom Ausgangspunkt des Angesprochenseins von Gott zu entfalten sucht, die kritische Selbstreflexion darüber wissenschaftstheoretisch mit Dabrock als responsive Ra­tionalität entwickelt und das Bekennen als die spezifische Sprachform der Theologie beschwört. Mit solcher Argumentation möchte die Vfn. unter anderem dem subjekttheoretischen Ansatz Falk Wagners widersprechen (187), läuft aber dessen Kritik an der be­haupteten Selbstmitteilung Gottes in der Wort-Gottes-Theologie als Setzung des religiösen Bewusstseins geradewegs in die Arme (vgl. z. B. Falk Wagner, Religion und Gottesgedanke. Philosophisch-theologische Beiträge zur Kritik und Begründung der Religion, Frankfurt 1996, 131).
Kann also die theologische Konzeption für ein Menschenbild im Horizont der Anrede, wie sie hier vorgelegt wird, den Rezensenten nicht überzeugen, stellen immerhin die Referate zur neurowissenschaftlichen und philosophischen Debatte um das Problem der Qualia eine verdienstvolle Leistung theologischer Aufarbeitung dar. Aber auch zu diesem vorderen Teil des Werkes ergeben sich kritische Anfragen. So erfährt man herzlich wenig davon, wie sich bisher Theologinnen und Theologen in diese Debatte hineinbegeben haben. Aus der umfänglichen Diskussion in der katholischen Theologie kommen nur Quitterer und Runggaldier zu Wort, und dies nur ganz am Rande; von den Wortmeldungen der protes­tantischen Theologie vor 2008 fehlen z. B. Klein (Andreas Klein, »Die Wahrheit ist irgendwo da drinnen […]?« Zur theologischen Relevanz [radikal-]konstruktivistischer Ansätze unter besonderer Berücksichtigung neurobiologischer Fragestellungen, Neukirchen-Vluyn 2003), Körtner (Ulrich H. J. Körtner, »Lasset uns Menschen machen«. Christliche Anthropologie im biotechnologischen Zeitalter, München 2005; ders./A. Klein [Hrsg.], Die Wirklichkeit des Geistes. Konzeptionen und Phänomene des Geistes in Philosophie und Theologie der Gegenwart, Neukirchen-Vluyn 2006) und andere; ganz zu schweigen von den theologischen Diskussionsbeiträgen um 2008 und kurz danach, auf die die Vfn. in der Überarbeitung ihrer Habilitationsschrift für die Drucklegung noch hätte eingehen können. Aber auch inhaltlich tun sich an der Argumentation im Buch Fragen auf. So insistiert sie in nicht einzusehender Weise darauf, die Differenz in der Erlebnisqualität zwischen be­wusstseinsimmanenten Objekten (wie Gedanken, Wünschen, Ab­sichten usw.) und Erfahrungen mit bewusstseinsexterner Referenz möglichst einzuebnen (82–88). Weiterhin ist anzufragen, in­wieweit der subjektive Modus des Erfahrens oder Erlebens von Menschen überhaupt »vorsprachlich« sein kann, wie die Vfn. behauptet (88). Schließlich lässt der ganze theologische Rahmen, in den die Diskussion um die Qualia gestellt wird, die Frage nach der gedanklichen Konsistenz laut werden. Denn einerseits kündigt die Vfn. für die nachfolgenden Ausführungen zu den Debatten in der Hirnforschung ein Herangehen im Sinne der dialektischen Theologie an: »Es geht nicht darum, ob im Bereich einer säkularen Vernunfterkenntnis ein Anknüpfungspunkt gefunden werden kann, sondern ob umgekehrt diese christliche Botschaft der säkularen Welt heute etwas zu sagen hat, was dieser im Rahmen ihrer Vernunfterkenntnis weiterhilft.« (47) Andererseits wird die Durchführung ihrer Untersuchung von dem sorgenvollen Räsonieren begleitet, wie anschlussfähig die neurowissenschaftlichen Hypothesen für die theologischen Anthropologien sind (z. B. 52 und 71).
So sehr also die vorgelegte Untersuchung vor allem kritische Fragen hinterlässt, umso dringlicher tritt die Notwendigkeit ins Blickfeld, dass sich die Theologie umfassend in das Gespräch mit den Neurowissenschaften hineinbegibt und die philosophische Reflexion ihrer Forschungen aufgreift.