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Ausgabe:

September/2013

Spalte:

993–995

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Spalding, Johann Joachim

Titel/Untertitel:

Predigten größtentheils bey außerordentlichen Fällen gehalten (1775). Hrsg. v. M. van Spankeren u. Ch. E. Wolff unter Mitarbeit v. J. Heck, V. Look, O. Söntgerath, R. Zastrow.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2011. XXX, 623 S. = Johann Joachim Spalding Kritische Ausgabe. Zweite Abtl.: Predigten, 4. Lw. EUR 119,00. ISBN 978-3-16-150943-8.

Rezensent:

Markus Wriedt

Die in rascher Folge erscheinenden Editionsbände der Spalding-Forschungsstelle in Münster vermögen den Rezensenten in so manche Not zu bringen: Seit 2011 liegt ein weiterer, umfänglicher Band von Predigten des Berliner Neologen vor. Will man diesen sorgfältig besprechen, erfordert das nicht nur die Lektüre von mehr als 600 Seiten – davon knapp 400 Seiten reine Textedition, sondern auch den genauen Vergleich mit den anderen, bisher vorliegenden Bänden der zweiten Abteilung der Kritischen Ausgabe. Freilich eröffnet ein solcher Vergleich auch wiederum Möglichkeiten, in die neologische Praxis Einblicke zu erhaschen und so etwas zum geistesgeschichtlichen Profil dieser in ihrer Bedeutung im­mer noch weit unterschätzten Bewegung protestantischer Predigt- und Gelehrtenkultur außerhalb der akademischen Diskursräume beizutragen. Mithin: Eine Würdigung der neologischen Transformation des reformatorischen Glaubenszeugnisses in der Sprache des endenden 18. Jh.s steht noch aus, und kann – und soll – im Rahmen einer Rezension gar nicht versucht werden.
Die vorgelegte Edition entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie, hatte doch Spalding von einer sammelnden Ausgabe seiner in zahlreichen Individual- und Einzeldrucken erschienenen Predigten Abstand genommen. Vielmehr hat ein Verleger Carl Gottlieb Strauß sich im Jahre 1775 um dieses Unterfangen wegen der abgelegenen Veröffentlichungsorte und der schwierigen Wiederbeschaffung der Texte bemüht. Die Herausgeber und Editoren der nunmehr vorliegenden Ausgabe greifen diese Vorarbeiten dankbar auf, entscheiden sich aber angesichts der Möglichkeit, zumindest bei 14 der insgesamt 25 Texte auf den Originalerstdruck zurück­greifen zu können, für diesen Weg. Damit wird eine größtmög­liche Nähe zu Spaldings Originalen gewahrt und mögliche edito­rische Interventionen des Herausgebers Strauß werden eliminiert. Gleichwohl repräsentiert der gesamte Band Druckschriften und nicht – wie das Barther Predigtbuch (SpKA II/5) – in mühsamer De­tailarbeit dechiffrierte Handschriften.
Die Sammlung enthält neben etlichen Kasualpredigten auch erbauliche Schriften und wurde bereits von Strauß in drei Abteilungen untergliedert. In der ersten »Abtheilung« finden sich neben der Abschiedspredigt aus Barth und der Antrittspredigt in Berlin aus dem Sommer 1764 Ansprachen zur Einführung Tellers sowie Gedächtnis- und Leichenpredigten zu namhaften Vertretern der Berliner Gesellschaft, darunter Prinz Friedrich Heinrich Carl von Preußen, dem Lieblingsneffen Friedrichs II. von Preußen, der eben 20-jährig 1767 einem Manöverunfall zum Opfer fiel, Johann Peter Süßmilch, dem Propst von St. Petri und Konsistorialrat in Berlin, Georg Friedrich Lüdecke, dem in Halle und Jena ausgebildeten Prediger an der Berliner Nikolai-Kirche, Andreas Christlieb Vogel, einem Prediger an dem Berliner Friedrichshospital und später an der dortigen Georgenkirche, Christian Friedrich Sadewasser, dem Oberkonsistorialrat und Prediger an der Friedrichwerderschen und an der Dorotheenstädtischen Kirche, Sigismund Lucas Hoffmann, der zuletzt als Prediger an der Sophienkirche in Berlin tätig war, und Joachim Siefert, der vom Hilfsprediger zum 2. Prediger an der Berliner Georgenkirche avancierte. Alle Verstorbenen gehörten, mit Ausnahme des Hohenzollernprinzen, dem Berliner Klerus an und etliche zeichneten sich durch eine Ausbildung in Halle aus. Für künftige kollektivbiographische Überlegungen zum Kreis der Berliner Pastoren bieten sich hier einige reizvolle Ausblicke. Sie werden durch Biogramme von Spaldings Hand zu Lüdecke, Vogel, Sadewasser und Hoffmann (397–420) sinnfällig ergänzt.
Die zweite Abteilung enthält insgesamt fünf »andere« Predigten zu Fragen der christlichen Lebensführung im Angesicht von Anfechtung, Glück und eschatologischer Hoffnung. Hierbei geht es sehr viel mehr als in den voranstehenden Kasualreden um Predigten an die Gemeinde, innerhalb derer Einzelne oder auch eine ganze Gruppe in besonderer Weise ihre christliche Lebensbewältigung in Frage gestellt sahen. Wenn es eines ausgesuchten Beweises für die innovative und zugleich konservativ-beharrende Transformation der reformatorischen Rechtfertigungsbotschaft in eine zeitgemäße, erbauliche und zugleich intellektuell die Herausforderungen der Zeit nicht negierende Predigtsprache bei Spalding bedurft hätte, könnte dieser allein in den fünf vorgelegten Predigten gefunden werden. Sie zählen zweifellos zu jenen »unverzichtbare[n] Dokumente[n] der neologischen Frömmigkeitspflege, de­ren eindringend Lektüre sich auch heute noch ›jeder Freund der Religion […] zu einer Pflichtsache machen muß.‹« (Vorwort des Reihenherausgebers, VI.)
Jene Charakterisierung gilt auch den Texten der dritten Abteilung, die freilich nun nicht mehr als Predigten veröffentlicht wurden, sondern als Erbauungsschriften – durchaus auf Predigten aufbauend –, mit denen der Katechismusunterricht in der Fastenzeit der Schuljugend zu St. Nicolai und Marien zwischen 1765 und 1774 zugeeignet wurde.
Vom Genre her ist dies eine besondere Literaturgattung: Zum einen wird die noch aus vorreformatorischer Zeit bekannte Tradition der Fastenpredigten aufgegriffen, in denen – nicht zuletzt durch Luther mit seiner berühmten Invokavitpredigt – Missstände der Zeit und politische Ungerechtigkeit angeprangert und Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen geübt wurde. Zum anderen wird von Spalding dieser breite Verwendungszweck der Fastenpredigt konzentriert auf ihren Nutzen zum Abschluss der öffentlichen Katechisation, mithin in religionspädagogischem Interesse. In den insgesamt zehn erbaulichen Traktaten zur zeitgemäßen Frömmigkeitspraxis und der persönlichen Entwicklung sind zahlreiche Beispiele vorhanden, die den Vorwurf »platter Moralität« und »vordergründiger, gesellschaftskonformer Sittlichkeit« zu entkräften vermögen. Nicht nur im Kontext einer systematisch be­hutsameren Würdigung des ethisch-praktischen Interesses der Katechismuspredigt, die über weite Strecken dem Verdacht des Semipelagianismus enthoben ist, sondern auch in dem weiteren Horizont der historischen Bildungsforschung finden sich hier Kleinode, die durch entsprechende Untersuchungen noch zum Strahlen gebracht werden können.
Wie schon in den vorausgegangenen Bänden findet sich ein knapper Erläuterungsteil, der vor allem Bibelbezüge, historische Kontexte und Daten verständlich macht. Er ersetzt keine Kommentierung, hilft aber die Texte historisch einzuordnen und er­leichtert, gerade seiner Knappheit wegen, auch die Lektüre. In den Registern steckt – wie so häufig – eine gewaltige Kärrnerarbeit. Es werden Bibelstellen, geographische Namen, Personen und Sachen aufgelistet. Die größte Arbeit steckt in dem detaillierten und sorgfältig gearbeiteten Sachregister. Es bietet den Schlüssel zum Zu­gang zu den Texten nicht nur für interessierte Theologen, die möglicherweise an der einen oder anderen Stelle auch vergeblich nach vertrauten Lemmata Ausschau halten, sondern vor allem auch für historisch arbeitende Phi­lologen und Kulturwissenschaftler, denen sich in der Fülle der Belege der gesamte Reichtum und die Ästhetik der deutschen Sprache des ausgehenden 18. Jh.s erschließt. Damit hat auch dieser Band seinen festen Platz in wissenschaftlichen Sammlungen zur Geschichte und Literatur, zu Theologie und Frömmigkeit der Aufklärungszeit verdient.
Mit Bedauern nimmt der Rezensent zur Kenntnis, dass im Editionsplan nur noch ein Band – der sechste und letzte – der zweiten Abteilung aussteht. Insofern mit den dann insgesamt 13 Bänden ein großartiges Element der Berliner aufgeklärten Theologie dokumentiert wird, stellt sich umso mehr die Frage nach neuen Unternehmen. In Zeiten knapper werdender Forschungsmittel wird man die Hoffnung auf weitere Editionen aus dem Berliner Neologenkreis kaum zu groß werden lassen dürfen. Es sei aber angemahnt, dass zumindest eine Auswahldokumentation weiterer Quel­len, insbesondere aber eine Rekonstruktion der Briefkorrespondenzen erhebliche Einsichten in die theologisch-geistesgeschichtlichen Verbindungen zum einen, zum anderen aber auch in das intellektuelle Netzwerk der Neologen erlauben würde. Schon jetzt bleibt freilich der Kritischen Ausgabe der Werke Spaldings zu wünschen, dass sie in Lehre und Forschung intensiv genutzt wird und zu der einen oder anderen Studie zu einer theologiegeschichtlich noch immer im Halbschatten liegenden, wenn auch kurzen Zeitphase Anlass geben möge.