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Ausgabe:

September/2013

Spalte:

990–993

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Hunsinger, George

Titel/Untertitel:

Karl Barth lesen. Eine Einführung in sein theologisches Denken. Aus d. Amerikanischen übers. v. M. Mühlenberg. M. e. Vorwort v. M. Beintker.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie 2009. XV, 303 S. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-7887-2180-0.

Rezensent:

J. Christine Janowski

Mit diesem Buch des evangelischen Theologen George Hunsinger, der seit 2001 Systematische Theologie am Princeton Theological Seminary lehrt und dort vorher Direktor am Center for Barth Studies war, handelt es sich um die Übersetzung seiner bei H. W. Frei in Yale geschriebenen Dissertation. Sie trägt im 1991 publizierten Original, das in den USA bald als ein Standartwerk begrüßt wurde, den hermeneutisch normativeren, nicht ganz unanstößigen Obertitel »How To Read Karl Barth«, und den grundsätzlicheren Untertitel »The Shape of His Theology«. Dabei geht es faktisch nur, aber immerhin, um das monumentale Werk »Die kirchliche Dogmatik« (KD), das vor allem im Blick auf die futurische Eschatologie: hier die Lehre von der Erlösung (im Unterschied zu der von der Versöhnung), ein Torso geblieben ist.
Die hermeneutische Normativität entspricht dem Anspruch nach einer »Leseanleitung« zum besseren Verständnis einer jeden Passage von KD. Wider einseitige Aufschlüsselungen von deren Denkform und von da aus auch Gesamtgestalt durch ein Prinzip wird von pluralen »Denk- und Argumentationsmustern«, »Leitperspektiven« oder auch »-motiven« ausgegangen, die sich scheinbar widersprechen, in Barths nicht-linearem Denken aber miteinander vernetzt sind und hier ihre »kumulative Beweiskraft« ge­-winnen sollen. Mit der entsprechenden »Kartographie« soll der »in­neren Kohärenz« – nicht einem von Barth abgelehnten »reinen Ko­härentismus« bzw. Systemdenken – und Barths mehrdimensionalem theologischen Verständnis von Wahrheit als »einzigartig bis hin zur Unbegreiflichkeit« – d. h. KD und deren paradoxer bzw. dialektischer »Sprache des Geheimnisses« (vgl. auch »Wunder«) – insgesamt besser als bisher genügt werden, um erst von da aus eine angemessene(re) Kritik zu ermöglichen, die hier nicht selbst ge­leis­tet werden kann und soll (Vorworte zum Original und zur deutschen Ausgabe).
Mit seiner Kritik an einseitigen Aufschlüsselungen bezieht sich der Vf. auf H. U. v. Balthaser und Th. F. Torrence als primär an einem formalen Prinzip, sowie auf G. C. Berkouwer und R. W. Jenson als primär an einem inhaltlichen Prinzip, schließlich auf H. Hartwell als einseitig an den dogmatischen loci orientiert (24; vgl. 8 ff.), ohne diese Ansätze abstrakt zu kritisieren. Seine Pointe ist vielmehr, dass in diesen hier als repräsentativ verstandenen Positionen »entweder die Einheit auf Kosten der Komplexität erklärt wird oder die Komplexität auf Kosten der Einheit«, mit der Folge, dass sich »alle möglichen Verzerrungen und Fehlinterpretationen« einschleichen (24).
Demgegenüber operiert der Vf. mit sechs Motiven: »Aktualismus«, »Partikularismus«, »Objektivismus«, »Personalismus« als auf den Inhalt bezogen, ferner »Realismus« als auf die Sprache und »Rationalismus« als auf die Lehrbildung bezogen. Sie werden in der Einleitung kurz eingeführt, in Teil I ausführlich erläutert, um in Teil II auf die theologisch-christologische Wahrheitskonzeption von KD »angewandt« zu werden (68), in einem Exkurs ergänzt durch »drei formale Muster«: das chalcedonensische, trinitarische (hier: »dialektische Einbeziehung«) und das hegelianische (hier: »Aufhebung«), die wiederum mit jenen Motiven strukturierend verschränkt sind. Zugleich setzen diese die christologische »Mitte«, die im »Abschluss« noch einmal thematisiert wird, schon derart voraus, dass sie ohne diese »nichts sind« (246). Am Schluss des langen »Epilogs«, der Barths Lehre von den weltlichen Gleichnissen der Wahrheit extra ecclesiam gewidmet ist, werden sie noch einmal auf diese angewandt, um auch dort ihre Tragfähigkeit zu erweisen, obwohl sie hier kaum direkt greifbar sind.
Der Vf. ist sich durchaus bewusst, dass die Rede von jenen »Ismen«, über die K. Barth sich m. E. verwundern oder sogar ärgern würde, problematisch ist. Sie sollen aber nicht dem Prokrustesbett (32) systematisch-philosophischer Prinzipien entsprechen, sondern einem Denken, das den tieferen Mustern des biblischen Zeugnisses entspricht (33), und zugleich »Eigenschaftsbestimmungen« von dessen durch Barth systematisch bedachtem Inhalt sein, von dem sie zugleich zu unterscheiden sind, weil sie ihn nicht erschöpfen (29). Und sie sind nicht nur als ineinander verschränkt und sich also wechselseitig interpretierend zu verstehen, sondern ihre Reihenfolge soll auch einer gewissen Hierarchie (24) sowie Teleologie (42.163) entsprechen.
Dabei wird pointiert, dass das Motiv des Aktualismus, mit dem der Vf. problematischerweise, weil »von oben«, einsetzt (vgl. »Gottes Sein in der Tat« usw.), das deutlichste und vielleicht auch schwierigste ist (29). Denn es wurde eines Monismus bzw. Determinismus verdächtigt, der das Geschöpf vom göttlichen Handeln völlig überrollt sein lässt, um von da aus die Alternative »einer dem Geschöpf innewohnenden unabhängigen Fähigkeit, ob sie der Wirksamkeit der Gnade nun vorausgeht oder auf sie folgt«, zu be­schwören, gegen die sich Barth mit seiner Ablehnung einer analogia entis immer gewehrt hat (8). Demgegenüber geht es mit diesem Motiv hier um eine »Theologie [nur?] der aktiven Beziehungen« sowohl in Gottes innertrinitarischem Leben als auch ereignishaft zu uns und von da aus von uns zu ihm (29 f.). Partikularismus entspricht trotz der häufigen Rede vom Besonderen den »Gnadenereignissen, wie sie mit Jesus Christus« als ihrer Mitte in der Schrift bezeugt sind« – genauer dem Einzigartigen (33 u. ö.) oder gar dem »ausschließlich Einzigartigen« (193), von dem her allererst das Allgemeine angefangen vom Wirklichkeits- und Möglichkeitsverständnis zu erschließen ist – und damit auch dem Geheimnis bzw. Wunder, das nicht zu »erklären«, sondern (wohl interpretativ!) nur zu »beschreiben« ist (vgl. bes. 116 ff.). Objektivismus sowohl im er­kenntnistheoretischen als auch im soteriologischen Sinne wird verbunden mit der höchst missverständlichen und problematischen Rede vom »Offenbarungsobjektivismus« und vom »soteriologischen Objektivismus« (38; vgl. bes. 78 ff. u. 93 ff.); sie entspricht der noch so verborgenen »Gegenständlichkeit« (35 ff.) Gottes und zugleich der wiederum verborgenen realen Präsenz des wahren Menschseins bzw. der wahren Menschheit (38 f.) in Jesus Christus, die in ihm – verborgen, aber mit eschatologischer Gültigkeit – »ob­jektiv-gegenständlich zu Gott gebracht« wird, so dass der Glaube nur »die Anerkennung dieser geheimnisvollen Aufnahme ist« (37 f.). Dieses Motiv ist also gegen den modernen liberalen theologischen Subjektivismus bzw. Anthropozentrismus gerichtet, der nach Barth L. Feuerbachs Reduktion der Theologie auf Anthropologie wesentlich ermöglicht hat (35), aber auch gegen ein bestimmtes Verständnis des »allein aus Glauben« (vgl. 108 ff.). Das Motiv des Personalismus im Verbund mit dem Aktualismusmotiv soll die Rede von Objektivismus gegen Missverständnisse schützen zugunsten einer wiederum durch Jesus Christus vermittelten ereignishaften Begegnung und Beziehung des Menschen zu Gott »von größter Intimität«, die partikular hier und jetzt beginnt (42). – Zu diesen vier Motiven sind in Teil II Kapitel 3: »Ereignishafte und einzigartige Wahrheit«, Kapitel 4: »Vermittelte Wahrheit: Offenbarung«, Kapitel 5: »Wahrheit durch Vermittlung: Erlösung« (Orig.: salvation), 6: »Wahrheit als Begegnung« (mit dem Schwerpunkt auf der Berufung zur Zeugenschaft), zu vergleichen.
Das Realismusmotiv, das die theologische Sprache auch der Bibel betrifft, wendet sich hier sowohl gegen das, was der Vf. der Einfachheit halber (einseitigen) Literalismus und symbolischen Expressivismus nennt, um ihm stattdessen eine nicht nur analogische, sondern auch ereignishafte Referenz bzw. Korrespondenz entsprechen zu lassen, die von der »persönlichen Anrede Gottes an den ganzen Menschen« her zu verstehen ist und mit auch sozialen Folgen (vgl. Kapitel 6) den ganzen Menschen involviert (43 ff.). Zugleich wird für dieses Motiv auf Barths postkritisches Verständnis narrativer Redeweisen der Schrift als Zeugnissen in Legendenform (vgl. z. B. Jungfrauengeburt, leeres Grab und Auferstehung!) rekurriert, die als »wirklich obwohl unvorstellbar und unvorstellbar und doch wirklich« einzigartigen, nicht wiederholbaren Ereignissen entsprechen und als solche »gut genug« sind (46 ff.). Rationalismus wird wie­-derum spezifiziert zugunsten eines anselmischen (vgl. intellectus fidei), der mit Folgen für den Kohärenzbegriff »als ›Vernunft in den Grenzen der Offenbarung‹ beschrieben werden« könnte (50), also Neutralität, (freie!) Spekulation, Apologetik und System ausschließt (50 ff.); er beruht im Blick auf die Formulierung konstitutiver, wenngleich korrigierbarer, gleichwohl nicht bloß regulativer Lehrsätze, die »aus der inneren Kohärenz des Glaubens heraus […] abgeleitet« sind, auf dem hermeneutischen Grund der – von Barth chris­tozentrisch interpretierten – Schrift als Ganzer (56 f.).
Im Blick auf den soteriologischen Objektivismus bzw. den »Erlösungsobjektivismus« ergibt sich als »Die zentrale Frage: Wie verhält sich das, was in Christus geschieht, zu dem, was in uns geschieht« (110)? Wie also ist die von Barth »höchst innovativ, komplex und kontraintuitiv« traktierte Einheit von soteriologischem Objektivismus und Personalismus (111) kohärent gedacht und nachvollziehbar? Die entsprechende Auseinandersetzung hat nicht nur »etwas Gekünsteltes oder Konstruiertes«, sofern beide Motive in jeweils einem Kapitel für sich traktiert werden (ebd.). Sie hat abgesehen von weiteren Begriffsproblemen, zu denen u. a. ein mindestens doppelter Dialektikbegriff gehört, auch ihre sachli­chen Grundmängel, von denen hier nur einige zu nennen sind. So spricht der Vf. von der Erlösung (Orig.: salvation, bei Barth selbst: Versöhnung im Unterschied zu Erlösung!) als einem »absolut bedingungslosen und unverdienten Geschenk, »das für alle gilt und [schon] wirksam« ist (114; Hervorhebung J. C. J., s. o.), um dann doch gelegentlich auf Barths Unterscheidung zwischen de iure und de facto oder virtuell und aktuell zurückzukommen. Zum anderen und damit zusammenhängend wird im Blick auf die objektive Erlösung bzw. Versöhnung (s. o.) das schwierige Grundmotiv der Stellvertretung, das schon Barths revolutionäre Erwählungslehre in KD II/2, die der Vf. kaum je auch nur streift, ebenso mitbestimmt wie die von ihm oft bemühte »Grundmetapher« von konzentrischen Kreisen (60), als solches nicht benannt, sondern taucht nur recht beiläufig gelegentlich zitativ auf. Zum dritten wird zwar auf den Heiligen Geist als Vermittlungsglied der genannten Einheit im Blick auf die kleine und zugleich exemplarische Minorität der Christen verwiesen, der mit Barth nur das »Daß« der Aktualisierung der objektiven Versöhnung hier und jetzt beschreibt, nicht aber das Wie erklärt (118). Doch im Blick auf das Problem einer futurisch-eschatologischen universalen Erlösung und Versöhnung aller Menschen als naheliegender Konsequenz von Barths Ansatz wird zugunsten der These eines bei Barth (sc. vor allem in KD II/2 noch!) vorliegenden »ehrfürchtigen Agnostizismus« mit gleichwohl klarer Richtung (141) auf Kohärenzanfragen verzichtet. Dies wohl nicht zuletzt, weil das Werk des Heiligen Geistes nicht auch in dieser Beziehung berücksichtigt wird. Schließlich wird das Problem der beidseitigen, wenngleich asymmetrischen »aktiven Beziehung« (s. o.) problematischerweise analog dem christologisch-chalcedonensischen Muster gedacht (197 ff.), in dem es doch um nur eine Person (in zwei Naturen) geht. Und das entsprechende Wunder bzw. Geheimnis jener Beziehung, das in der Überschrift zu Kapitel 7 unter den missverständlichen Begriff »Göttlich-menschliches Zusammenwirken« (Orig.: Double Agency!) als Testfall für das Problem der fehlenden Kohärenz von göttlicher Souveränität und menschlicher Freiheit gebracht wird, wird zwar auf durchaus erhellende Weise strikt antipelagianisch zugunsten radikaler Befreiung und Erneuerung behandelt. Doch ausgerechnet an diesem Punkt fehlt ein Verweis auf die Diskussion einer double agency seit A. Farrer oder barthimmanent eben auf die Erwählungslehre mit ihrem schwierigen Modell von Vorherbestimmung und entsprechend bestimmter Selbstbestimmung.
Der Vf. hat mit diesem Buch die Barthinterpretation und -rezeption energisch und zugleich mit einer gewissen Frische, die allerdings mit so etwas wie einer unterschwelligen Tendenz zu einer jedenfalls hermeneutischen Scholastik gepaart ist, von Einseitigkeiten befreit und zugleich ins Gespräch mit anderen, auch einigen nachbarthianischen Typen der Theologie (vgl. bes. G. A. Lindbeck, 145 ff.) sowie anmerkungsweise sporadisch u. a. auch Wahrheitstheorien gebracht. Da es derartige Einseitigkeiten nach wie vor in anderer Weise auch im deutschsprachigen Bereich noch gibt, ist die vorliegende Übersetzung an sich zu begrüßen. Doch hat sie abgesehen vom genannten Problem der Grundbegrifflichkeit der Erlösung bis hinein in allzu freie und sachlich sogar falsche Übersetzungen schon in den (Unter-)Überschriften (vgl. bes. 131: »Das zukünftig verhei-ßene Heil« versus »The Promised Future of Salvation«) gravierende Schwächen. Als Einführung in Barths theologisches Denken für Studierende (vgl. Vorwort des Vf.s zur deutschen Ausgabe, V) ist das Buch wohl nicht geeignet. Dies auch deshalb, weil die Architektur von KD, die doch höchst aufschlussreich ist, nicht vorgestellt und erläutert wird, dazu Barths Denken, das zudem von kaum genannten Fragen angetrieben wird, kaum genauer kontextualisiert wird und wichtige Verschiebungen innerhalb von KD allzu sehr vernachlässigt werden, ebenso wie andere Spannungen oder Sollbruchstellen. In den Anmerkungen fehlt der Hinweis darauf, dass einschlägige Werke wie die von B. McCormack, G. A. Lindbeck und B. Lonergan in deutscher Übersetzung vorliegen. Darüber hinaus wäre es gut gewesen, wenn sich der Vf. immerhin 18 Jahre nach dem Erscheinen des Originals in seinem deutschen Vorwort wenigstens knapp zur internationalen Barthforschung nicht zuletzt im deutschsprachigen Bereich verhalten hätte.