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Ausgabe:

September/2013

Spalte:

988–989

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Frank, Günter, u. Herman J. Selderhuis [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Philosophie der Reformierten.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog 2012. 439 S. = Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten, 12. Geb. EUR 68,00. ISBN 978-3-7728-2539-2.

Rezensent:

Hans Lichtenberger

Der Titel ist von irritierender und vielversprechender Weite, doch der thematische Rahmen des Bandes ist sehr viel enger. Die Beiträge des Werkes kreisen in minutiösen Einzeluntersuchungen um die Frage, inwieweit und in welcher Weise reformierte Theologen des 16. und 17. Jh.s sich auf Philosophie bezogen haben, wobei auch deutlich wird, dass für jene Protagonisten eine disziplinäre Differenzierung von Philosophie und Theologie in dieser Epoche noch nicht vorliegen konnte. Im Selbstverständnis ihrer Vertreter hatte offenbar die reformierte Tradition ein anderes Verhältnis zur Philosophie als die lutherische. Ist dieses näher zu bestimmen? Formell lässt sich eine größere Nähe zur natürlichen Theologie feststellen, was eine unbefangenere Offenheit gegenüber Verfahrensweisen der Philosophie impliziert. Zumindest als Propädeutik, häufig auch als Methode ist philosophisches Denken integraler Bestandteil reformiert-systematischer Lehre. Die Frage, ob es so etwas wie »reformierte Philosophie« gebe, verschiebt sich dann tendenziell zu der Frage, welche vorliegenden philosophischen Ansätze und Instrumente zur Explikation reformierter Lehre am ehesten geeignet erscheinen. Es kann als eines der Ergebnisse gelten, dass sich ein einheitliches und durchgängiges Profil hier nicht abzeichnet. – Doch vor zu weitgehenden Erwartungen wird entsprechend gewarnt: »Die Beiträge in diesem Band sind deshalb eher erste Einblicke in eine Forschungslandschaft, die heute weitgehend eine ›terra incognita‹ darstellt.« (13)
Die 15 Studien, die durchweg von stupender und akribischer Gelehrsamkeit geprägt sind, zeigen eine überraschende geistige Vielfalt der Epoche auf, präsentieren die begriffliche Distinktionsarbeit und den logischen Scharfsinn der kontroverstheologischen Auseinandersetzungen, geben zugleich einen Eindruck von der Internationalität und Beweglichkeit des damaligen akademischen Betriebs. Sie können hier nicht im Einzelnen gewürdigt werden, so wenig wie die Vielzahl oft kaum bekannter Namen und die Subtilitäten dogmatischer Detailfragen. Zudem ist nicht bei allen Aufsätzen der klare Bezug auf die Leitfrage in die Augen springend.
Grundlegend entwickelt sich im reformierten Denken der Epoche der Konsens eines hierarchischen Verhältnisses, wonach die Theologie der Philosophie zwar bedürfe, ihr aber übergeordnet sei (vgl. 239). Dass die Philosophie als ancilla theologiae akzeptiert wurde, mildert wohl ihre lutherische Verwerfung ab, bedeutet aber nicht, dass es eine spezifisch reformierte Philosophie gegeben habe. Auch die natürliche Theologie bleibt der Offenbarung in der Schrift nachgeordnet.
Die Philosophie wird also instrumentell auf ihren Methodencharakter reduziert, eine Tendenz, die übrigens für die entstehende neuzeitliche Philosophie selbst leitend ist. Die wesentlichen Orientierungsreferenzen für die Reformierten sind dabei Petrus Ramus, Aristoteles und Descartes. – Die ramistische Tradition fragt nicht metaphysisch nach dem Sein, sondern geht von der Fülle der geschaffenen Welt aus, deren Reichtum durch begriffliche Methode geordnet zu werden hat. Sie tendiert zum System, zur Enzyklopädie. – Aristoteles wird im Rahmen eines christlichen Platonismus rezipiert. Die Begriffe seiner Metaphysik werden als Begriffe einer natürlichen Theologie gedeutet und können in diesem Rahmen relativ unproblematisch für die reformierte Lehre eingesetzt werden. – Der Cartesianismus wiederum konnte mit seiner Lehre von den drei Substanzen Gott, Denken und Ausdehnung sich in die natürliche Theologie des Calvinismus einfügen, zumal Descartes die Unterscheidung von philosophischer und geoffenbarter Theologie ausdrücklich gemacht hatte. – Wiewohl im theologischen Selbstverständnis diese Philosophien nur propädeutische Funktion hatten, bleibt schlussendlich die komplexe Frage, inwieweit sie doch konstitutiv auf die verschiedenen Theologien eingewirkt haben. – Ergänzend werden Einflüsse der Stoa und des Pelagianismus dargestellt.
Der Band bietet Erkundungen von großer Differenziertheit und Detailgenauigkeit in einem in der Tat weithin unbekannten Gelände. Von der entfalteten Komplexität der Argumentationslagen kann diese Anzeige keine Vorstellung geben. Man hätte sich jedoch wenigstens auch eine Übersichtskarte gewünscht, die die einzelnen Beiträge in ihrer historischen und systematischen Valenz perspektivisch verortet. Doch vielleicht stand dem das Ergebnis entgegen, dass es eben keine einheitliche Philosophie der Reformierten gab. Aber der Titel erinnert an das Desiderat, dass einmal die Wirkungsgeschichte des reformierten Denkens in der Philosophie der Neuzeit, etwa im englischen Deismus und Empirismus, bei Rousseau, Kant und anderen in ähnlich gründlicher Weise erarbeitet werden möge.