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Ausgabe:

September/2013

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Dinzelbacher, Peter [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Mystik und Natur. Zur Geschichte ihres Verhältnisses vom Altertum bis zur Gegenwart. Berlin u. a.: De Gruyter 2009. VI, 227 S. m. Abb. = Theophrastus Paracelsus Studien, 1. Geb. EUR 104,95. ISBN 978-3-11-020297-7.

Rezensent:

Ute Gause

Der erste Band dieser neuen Reihe der Theophrastus Paracelsus Studien eröffnet mit einem anspruchsvollen Thema. Das Verhältnis von Mystik und Natur vom Altertum bis zur Gegenwart soll in exemplarischen Studien verdeutlicht werden.
Der erste Beitrag von Werner Heinz behandelt unter dem Titel »Medizin und Religion in der Spätantike« ein Gebiet, das schwerlich in einem Aufsatz bewältigt werden kann. Die mitgeteilten Beobachtungen sind eher aphoristisch. Dass sich aus der römischen Badekultur das frühchristliche Taufwesen entwickelte, ist eine unhaltbare Behauptung, zu vergleichen sind hier frühjüdische Waschungsrituale, wie man sie beispielsweise in Qumran findet.
Der nächste Beitrag »Naturkunde und Mystik bei Hildegard von Bingen: Der Blick und die Vision« von Laurence Moulinier widmet sich Hildegard von Bingen unter der Fragestellung, ob sich die Visionärin Hildegard eher einer naturkundlichen Betrachtung zugewendet hat oder doch stärker als Theologin und Visionärin die Tierwelt beschreibt. Letztlich resümiert Moulinier, dass Hildegard zum Teil in ihren Beschreibungen eine durchaus »pragmatische Autorin« (59 f.) sei, aber alle ihre Schriften trotzdem auf Visionen zurückführe und damit nicht als Vorläuferin naturwissenschaftlicher Weltbetrachtung gelten kann.
Der Herausgeber des Bandes, Peter Dinzelbacher, verfolgt in seinem Beitrag »Mystische Phänomene zwischen theologischer und medizinischer Deutung in Spätmittelalter und Frühneuzeit« die große Linie der konkurrierenden Deutung der Ursachen von Krankheiten. Er zeigt dabei auf, dass die Zurückdrängung transzendenter Deutung von Krankheiten kein Phänomen der Moderne ist. Schon in dem von ihm untersuchten Zeitraum zeigen sich dis­parate Bewertungen der körperlichen »Begleiterscheinungen der Mystik« (62), selbst wenn im betrachteten Zeitraum selbstverständlich die Medizin der Theologie untergeordnet war. Jedoch konstatiert er: »Nur die Erlebnismystik, nicht die theoretische oder philosophische Mystik, wurde schon bald nach ihrem ersten Auftreten im 12. Jahrhundert der körperlichen Begleiterscheinungen wegen von manchen als pathologisches Phänomen erklärt.« (65) Im Folgenden zeigt er Beispiele von Konkurrenz und Kooperation beider Deutungen. Im Hinblick auf die Phänomene Besessenheit und Hexerei, die im behandelten Zeitraum als Massenphänomen auftraten bzw. diagnostiziert wurden, sieht Dinzelbacher das massive Überwiegen übernatürlicher Erklärungen, genauso wie bei der Interpretation von Ekstasen, Visionen und Stigmata. »Der Paradigmenwechsel dürfte erst im 18. Jahrhundert erfolgt sein. Damals kippte das Verhältnis der Akzeptanzen, ohne dass die nunmehr dem Mainstream nicht mehr entsprechende religiöse Erklärungsweise völlig verschwunden wäre.« (83)
Bernhard Dietrich Haage definiert in »Paracelsus zwischen Spiritualität und Wissenschaft« Spiritualität als Geistigkeit, als »das Numinose […], was die menschliche Vernunft mit ihrer Logik übersteigt« (88). Es wird jedoch nicht klar, inwiefern für Paracelsus tatsächlich Mystik in engerem Sinne eine Bedeutung hatte. So konzentriert sich der Beitrag auch fast ausschließlich auf die Frage, wie das Wissenschaftsverständnis von Paracelsus ausgesehen hat, und konstatiert zu Recht, dass er »stark irrational gebunden und keineswegs als ein wissenschaftlicher Erneuerer der medizinischen Methodik« (96) gelten kann. Letztlich wird die Rolle der Magie im Denken des Paracelsus nicht angemessen erfasst und seine Verhaftung in der Renaissancephilosophie nur unzureichend bedacht – hier hätten die zahlreichen wegweisenden Aufsätze von Hartmut Rudolph zum Magieverständnis zur Klärung beitragen können.
Ingrid Kästner befasst sich in ihrem Beitrag mit der Paracelsusrezeption im Hinblick auf seine Arzneimittelzubereitung, von daher löst sie den Anspruch ihres Titels »Der jüngere Paracelsismus zwischen Spiritualität und Wissenschaft« nicht wirklich ein. Im Hinblick auf ihre dann eingegrenzte Fragestellung gelingt ihr al­lerdings der Nachweis einer breiten Rezeption bis hin zu Homöo­pathie und Antroposophie.
Günter Bonheim fragt in seinem Aufsatz »›Lernet von ehe unterscheiden‹ Jacob Böhmes Mystik der Naturen« nach dem Verhältnis von Nichts und Natur, wobei das Nichts von Böhme als »Auge der Ewigkeit« und als »Grund der Gottheit« bezeichnet wird. Die Natur ist gleichzeitig Werkzeug der Ewigkeit, weil durch sie Gottes Wort offenbart wird (vgl. 126). Insofern ist Böhmes Mystik nicht pantheistisch, sondern an den trinitarischen Gott und das Wort gebunden. Dem Autor geht es jedoch stärker um das Verhältnis von Natur und Mensch bei Böhme. sSlbst wenn er Böhmes Durchbruchserlebnisse, seine mystischen Erfahrungen beschreibt, wird die tiefreligiöse Dimension, die diese Entrückungen für Böhme hatten, nicht deutlich.
Werner E. Gerabek befasst sich mit »Romantische[r] Medizin und Religiosität« und konstatiert, dass im Verlauf des 18. Jh.s die Auffassung eines persönlichen Gottes immer stärker durch das Konzept eines göttlichen Prinzips verdrängt worden sei. Die ro­mantische Medizin entwickelt sich von dieser Idee weg. Das wird am Beispiel Mesmers und des Mesmerismus, der obwohl er »kosmische Potenzen für Krankheit und Gesundheit des Menschen verantwortlich« (143) macht, der Meinung ist, er könne mit Hilfe dieses Magnetismus auf natürliche Weise heilen und sich dabei auf me­chanische Gesetze beruft (144). Aufgegriffen wurde Mesmers Idee des magnetischen Schlafes von den Romantikern, die ihn nicht zur Heilung, sondern für einen Zugang zum Unbewussten benutzten, der gleichzeitig zum Erkennen eines göttlichen Prinzips führen könnte. Damit verließen sie den Boden der exakten Na­turforschung. Hier liegen Anfänge einer Beschäftigung mit dem Unbewussten. Gleichzeitig sieht der Autor die Romantiker als eine Gegenbewegung zur mechanistisch-materiellen Aufklärungsphilosophie. Ob Mesmer hierfür eine tragende Brückenfunktion ge­bildet hat, bleibt unklar. Die übergreifende Fragestellung nach dem Verhältnis von Mystik und Natur ist nicht mehr zu erkennen.
Dies gilt genauso für die nun folgenden Beiträge: Friedrich Harrers Beitrag »Ganzheitliches Denken und Naturmystik bei Goethe« beginnt mit einer Beschreibung von Goethes allgemein bekannter Distanz zur verfassten Religion. Im Gegenzug rekonstruiert Harrer nun Goethes Naturmystik, die er unter dem Aspekt untersuchen will, ob man bei ihm von einem ganzheitlichen Naturverständnis (157) sprechen kann, was er anhand von zahlreichen Textbeispielen (159–167) versucht. Christine Agnes Tuczay wendet sich einer völlig anderen Spielart mystischen Erlebens zu: In ihrem Aufsatz »Ekstase, Mystik, Drogen« betont sie zunächst die Bedeutung, die Drogen zur Annäherung an das Heilige in Ritualen hatten und haben. Nach diesem Überblick beschreibt sie Hexenflug und Hexendrogen als Beispiel für eine ritualisierte Verwendung von Drogen. Sie ist der Auffassung, dass es die halluizogene Wirkung der Hexensalben war, der die Beschreibungen von Hexenflug und Hexensabbat zugrunde liegen. Schließlich wendet sie sich der »Drogenmystik des 20. Jahrhunderts« zu und damit den bewusstseinserweiternden Drogen, vor allem LSD. Sie belegt, dass offensichtlich religiöse Rauscherfahrungen nur bei den Personen vorkamen, die bereits religiös affiziert waren, während an­-dere keine mystikähnliche Erfahrungen machten, »d. h. dass die Droge nicht a priori mystikogen fungiert« (197). Der letzte Beitrag von Ralph Frenken »Leiden und Heilung: Zur Phantasiewelt der mittelalterlichen Mystik« vergleicht Persönlichkeitsstruktur, Kindheitsgeschichten und Körperauffassung deutschsprachiger Erlebnismystikerinnen und -mystiker des Mittelalters mit modernen Borderline-Persönlichkeiten und kommt zu dem Schluss: »Die Beziehungsform, die sich zwischen mittelalterlicher Mystikerin und Beichtvater ausbildete, lässt sich als Vorläufer moderner Psychotherapieformen ansehen.« (222)
Gerne hätte man etwas über die Verfasser erfahren, um die Beiträge besser einordnen zu können. Letztlich führt der Sammelband keine Klärung hinsichtlich des Verhältnisses von Mystik und Natur herbei. Dafür sind die Aufsätze zu unterschiedlich, die Zu­gänge und Beispiele sind eklektisch. Eine Begriffsklärung im Eingangsteil, wie Mystik zu verstehen ist (und dass Mystik und Spiritualität keine synonymen Begriffe sind!), hätte zu einer stärkeren Fokussierung geführt. Dass das unterblieben ist, ergeben die Einzeluntersuchungen nur ein Konglomerat. Insgesamt kann ich den Band zur Lektüre nicht empfehlen.