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Ausgabe:

September/2013

Spalte:

981–982

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Telschow, Jürgen

Titel/Untertitel:

Ringen um den rechten Weg. Die evangelische Kirche in Frankfurt am Main zwischen 1933 und 1945.

Verlag:

Darmstadt: Verlag der Hessischen Kirchengeschichtlichen Vereinigung 2013. XII, 237 S. m. 39 Abb. = Quellen und Studien zur hessischen Kirchengeschichte, 24. Kart. EUR 17,50. ISBN 978-3-931849-42-9.

Rezensent:

Karl Dienst

Die aus der noch ausstehenden Gesamtdarstellung einer Auswertung der »Kirchenkampfdokumentation« (KKD) der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (Darmstadt 1974–1999) herausgelöste Untersuchung der früheren, »organisatorisch und territorial nicht langjährig gewachsenen« Propstei Frankfurt am Main durch den früheren Leiter der Verwaltung des Frankfurter Evangelischen Re­gionalverbandes Jürgen Telschow will aufgrund eingehender, auch biograpisch und theologiepolitisch abgestützter Untersuchungen am Verhalten der gesellschaftlich abgrenzbaren Frankfurter Pfarrerschaft zwischen 1933 und 1945 über lokale Aspekte hinaus u. a. »die Affinität des Protestantismus zum Nationalsozialismus und die differenzierte Zusammensetzung der verschiedenen kirchenpolitischen Lager« in den Blick bekommen (2). Dieses die Positionen und Verhaltensweisen der einzelnen Pfarrer be­schreibende »Gruppenbiogramm« (2) ist ein an­spruchs­volles Un­ternehmen, das ein hohes Maß an Differenzierungen innerhalb einzelner Gruppierungen, ja selbst im Blick auf die biographisch-kirchenpolitischen Wandlungen einzelner Personen (z. B. Karl Veidt, Otto Fricke) erfordert. Auch die (vor allem im »Anhang«) fast erdrückende Daten- und Zitatenfülle verdient Respekt und Anerkennung.
Es ist kaum möglich, in gebotener Kürze die Ergebnisse der aspektreichen Untersuchung zusammenzufassen, bei der zuweilen auch Einschätzungen, Annahmen und Vermutungen eine Rolle spielen, was nach Aktenlage verständlich ist. Im Rückgriff auch auf frühere Veröffentlichungen T.s lassen sich einige Grundtendenzen im Blick auf die Entwicklungen in Frankfurt benennen: »Nationalismus und volksmissionarischer Impuls waren zwei Mo­tive für die Nähe zum Nationalsozialismus und der Hoffnung, daß sich die Kirche unter ihm besser entfalten könne […] Mit der Politik des Nationalsozialismus hatte die Frankfurter Kirche keine grundlegenden Probleme […] Verbindungen zum aktiven politischen Widerstand sind nicht belegt« (1 f.), wohl aber Vermittlungsversuche zwischen den verschiedenen Positionen. Noch prägnanter: Es ging der Bekennenden Kirche (BK) »nicht um Widerstand oder Op­position gegen den NS-Staat. Es ging ihr vor allem um die Eigenständigkeit der Kirche« (159). Das heißt: Die Mehrzahl der Frankfurter Pfarrer wollte sich nicht in ihr Amt hineinreden lassen, was angesichts der eher staatskirchlichen Tendenzen der Na­tionalsozialisten, die man auch »in Darmstadt« (Dietrich – Kipper!) verortete, verständlich ist! Bei den kirchenpolitischen Positionie rungen spielte, neben üblichen pfarramtlichen Querelen, vor allem »die Frage, wer das Sagen in der Kirche haben und wie sehr die Kirche vom NS-Staat abhängig sein dürfe« eine positionelle Rolle. Was die Theologie anbelangt, so markiert die NS-Diktatur keine eigene Epoche der neueren Theologiegeschichte (162). Faktisch wurden die überkommenen innertheologischen Paradigmen­kämpfe fortgeführt, wobei es vielfältige strukturelle und be­griffliche Affini­täten gab (»rechte« Leute von links und »linke« Leute von rechts). Entgegen der späteren »barthianischen« Verdächtigungen auf einen Zusammenhang der liberalen Theologie mit dem NS-Staat fanden sich in Frankfurt »die liberalen Theologen zu einem größeren Teil bei der BK wieder« (159). Auch für das Biographische ist ferner T.s Feststellung wichtig, dass die Vorstellung fester, ein für allemal bestehender theologischer Frontlinien ebenso irreführend ist wie die Annahme direkter Entsprechungen zwischen theologischer Position und politischer Grundhaltung gegenüber dem Nationalsozialismus. Dies ist aber kein »Alleinstellungsmerkmal« der Kirchen. Die nationalsozialistische Diktatur stand z. B. auch erziehungs- und bildungsgeschichtlich nicht in einem histo­-rischen Va­kuum. Nach Entstehung und Gestalt, Ideo­logie und Herrschaftstechnik sind vielmehr Kontinuitätslinien und Verbindungen mit der deutschen Geschichte ganz unübersehbar.
Für den Umgang evangelischer Frankfurter mit Juden finden sich verhältnismäßig wenige, allerdings eindrückliche Be­lege; »an­tijüdische, aus der Bibel hergeleitete, Äußerungen fanden sich nicht« (162).
Diese verdienstvollen, eher beschreibenden Ausführungen verbindet T. allerdings zuweilen mit Werturteilen, die für mich eher dem forensischen Blick eines Juristen entstammen und die sich vor allem im »Anhang« auf die Selbstrechtfertigungsversuche von Pfarrern im Blick auf ihre »braune« Vergangenheit im Kontext der von den Amerikanern eingeforderten »Selbstreinigung« der Kirche stützen. Auch wenn die diesen Imperativ ausführende BK in Frankfurt nach T. (162) »mit den früheren Gegnern nicht besonders streng umgegangen ist […] und die Mitgliedschaft bei DC und NSDAP die Übernahme von Leitungsämtern auf der mittleren Ebene sofort und später nicht hinderte«: Nicht wenige Betroffene erinnerten solche Maßnahmen aber auch an eine »Kriminalisierung« ihrer Gesinnung wegen. Kurz: Für mich ist der Schritt von der Deskription zur normativen Bewertung von Personen, Ereignissen und Verhältnissen nach heutigen Wertvorstellungen gerade im Blick auf den Wissenschaftscharakter der Kirchengeschichte nicht unproblematisch. Sie sollte » jede Art von Werturteilen nach Möglichkeit vermeiden und sich auf objektive Sachurteile be­schränken« (Wolf-Friedrich Schäufele), statt falscher Eindeutigkeit der Eigenmacht des Mehrdeutigen, Unabgeschlossenen, auch Widersprüchlichen gerecht werden. Mit Thomas Nipperdey und Friedrich Wilhelm Graf halte ich geschichtliche Prozesse für offen, nicht determiniert, was »teleologisches« Lesen und Erzählen problematisiert. Schuld- und Bußbekenntnisse mögen einer »katharsischen Funktion« und damit einer »Theologizität« der Kirchengeschichte entgegenkommen. Dies darf aber nicht auf Kosten ihrer Historizität geschehen, hat sie doch keine anderen Methoden als die allgemeine, historisch-kritisch verfahrende Geschichtswissenschaft zur Verfügung. Ich bin gespannt, wie sich T.s fleißiger und kenntnisreicher Band in den Fortgang des genannten »Forschungsprojektes« der EKHN einzeichnet.