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Ausgabe:

September/2013

Spalte:

974–975

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Ernesti, Jörg

Titel/Untertitel:

Paul VI. Der vergessene Papst. M. e. Vorwort v. K. Lehmann.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Herder 2012. 376 S. m. Abb. Lw. EUR 29,99. ISBN 978-3-451-30703-4.

Rezensent:

Reinhold Rieger

In einer Zeit, in der sich die Päpste die Klinke in die Hand geben, nachdem sie aus aller Welt nach Rom gekommen waren, erscheint der Blick hinter Johannes Paul II. zurück in die Zeiten der italie­nischen Päpste fast wie ein Blick in eine fremdgewordene Welt. Ist der vorletzte italienische Papst oder der letzte, länger regierende Paul VI. zu Recht »der vergessene Papst«? Die neue deutschspra­chige Biographie Pauls VI. aus der Feder des Brixener Kirchenhis­torikers Jörg Ernesti zeigt eindrucksvoll, dass dies unter kirchengeschichtlichem Aspekt eine Fehleinschätzung und ein Un­recht wäre, beginnt doch mit Paul VI. eine neue Epoche der Papstgeschichte, wie aus dem jetzt erreichten zeitlichen Abstand und den bisherigen Entwicklungen deutlich wird. Paul VI. be­gründete einen neuen Stil der Ausübung des Papstamtes, der bis heute von seinen Nachfolgern gepflegt wird. In den Hintergrund der Aufmerksamkeit trat Paul VI., weil sein Vorgänger Johannes XXIII. ungleich populärer und sein zweiter Nachfolger Johannes Paul II. wesentlich charismatischer war. Dennoch nimmt Paul VI. als Papst des Übergangs von Italien zur Welt eine Schlüsselstellung ein.
E. teilt seine Darstellung, die sich vor allem auf die Reden Pauls VI. und auf seine privaten Aufzeichnungen stützt und sich von biographischen Versuchen abgrenzt, die »einen Mangel an kritischer Distanz zum Gegenstand« (23) aufweisen, in zwei Teile ein, deren erster über das Leben Montinis bis zur Papstwahl 1963 ca. ein Achtel des Umfangs einnimmt. Der zweite Teil zum Pontifikat spiegelt die drei großen Phasen oder Epochen wider, die es prägten: die Aufbruchszeit (1963–1965), in der Paul VI. das II. Vatikanische Konzil fortführte und zum Abschluss brachte; die nachkonziliare Krise (1966–1970), die schon mit dem Streit um die Liturgiereform einsetzte und durch die politischen Entwicklungen um 1968 verstärkt wurde und in der Zölibatsfrage, den Laisierungswellen und den Reaktionen auf das Verbot der künstlichen Empfängnisverhütung kulminierte; schließlich die Phase der Konsolidierung (1970–1978) um das Heilige Jahr 1975 herum mit dem Jugendtreffen in Rom. Thematische Längsschnitte zum Verhältnis Pauls VI. zum Judentum, zu ökumenischen Entwicklungen, zu seinen sozialen und politischen Anliegen, zu seiner Reisetätigkeit, zu seinem Verhältnis zu schwierigen Ortskirchen ergänzen den chronologischen Gang der Biographie. Auf allen diesen Feldern wird die Ambivalenz der Persönlichkeit Pauls VI. und seines Wirkens deutlich, die zwischen Offenheit für die Gegenwart und »Modernitätspathos« (59) auf der einen Seite und vorsichtiger Zurückhaltung und Konservatismus auf der anderen Seite changiert. Modernität zeigte sich auch daran, dass Paul VI. die Medien gezielt für seine Anliegen einsetzte, dass er der erste Papst seit Langem war, »der reiste, der erste, der alle fünf Kontinente betrat und der erste, der ein Flugzeug bestieg« (87), dass er den technischen Fortschritt op­-timistisch bejahte. Reformwillen zeigte Paul VI. bei der Erneuerung der Liturgie, mit der Einrichtung der Bischofssynode, in der Kurienreform, in der Ökumene besonders mit der Orthodoxie und dem Anglikanismus, in der sozialen Frage. Als regressiv wurde sei­ne Haltung zu Zölibat, Empfängnisverhütung, Transsubstan­tia­tion, Seelenlehre, Mariologie und Heiligenverehrung empfun den. Seine Sensibilität für Literatur und seine Förderung der modernen Kunst auch in der Kirche zeigten seine kulturelle Offenheit, die sich etwa in Anregungen zu einem neuen Stil der Kirchenbaukunst auswirkte. Seine Haltung gegenüber der Entwicklung der katholischen Theologie, etwa bei Karl Rahner oder in der Exegese, müsste noch untersucht werden.
Das Urteil Karl Rahners von 1971, das E. in der Einführung zitiert, findet in dieser Biographie seine Bestätigung: »Fortschrittlichkeit und Konservativismus, Mut und Vorsicht, plötzliche Entschlüsse und überlanges Zögern, entschlossene Fortführung der Impulse des II. Vatikanums und Tendenzen eher rückläufiger Art mischen sich auf allen Gebieten.« (17)
Im Epilog fasst E. seine Darstellung nach den wesentlichen Ge­sichtspunkten prägnant zusammen. Der letzte, Paul VI. ab­schließend charakterisierende Abschnitt ist überschrieben mit dem Leitmotiv der »Zwiespältigkeit« (313), die Montini kennzeichnete, der eine vielschichtige, aber faszinierende Persönlichkeit ge­wesen sei.
Die 41 gut gewählten, sprechenden Schwarzweiß-Bilder, meist Szenenaufnahmen, werden von E. zuweilen ausführlich interpretiert und zeigen, wie das Pontifikat Pauls VI. auch durch Bilder in der Öffentlichkeit wirkte. Bibliographie, Zeittafel und Personen­register vervollständigen die sehr gut lesbare und ansprechend gestaltete Biographie einer zu Recht der Vergessenheit entrissenen Gestalt der neueren Kirchengeschichte. Dem Band voran geht ein Geleitwort des Bischofs von Mainz, Karl Kardinal Lehmann, in dem er das Buch des Brixener Kirchenhistorikers und Ökumenikers E. würdigt.