Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2013

Spalte:

972–974

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Bischof, Franz Xaver [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965). Stand und Perspektiven der kirchenhistorischen Forschung im deutschsprachigen Raum.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2012. 242 S. m. 1 Abb. = Münchener Kirchenhistorische Studien. Neue Folge, 1. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-17-022220-5.

Rezensent:

Martin Ohst

Der Band dokumentiert die Beiträge eines Symposiums, bei dem im Februar 2010 Forscher der unterschiedlichsten Altersstufen zusammentrafen. Er enthält Auskoppelungen aus großen Werken (so N. Trippen, Kardinal Josef Frings auf dem II. Vatikanischen Konzil, 93–103; besonders aufschlussreich sind die Ausführungen über Joseph Ratzingers schwerlich zu überschätzende Rolle als Frings’ Berater sowie als Mitautor von Konzilsdokumenten, die er dann alsbald auch offiziös kommentierte). Daneben stehen Berichte über Dissertationsvorhaben, die kaum über das Stadium von Ab­sichtserklärungen heraus gediehen sind (so St. Mokry, Kardinal Julius Döpfner [1913–1976] und das II. Vatikanische Konzil, 67–79).
Insgesamt fassen die Beiträge ihr Thema aus rein zeitgeschichtlicher Perspektive ins Auge. Versuche, Themen und Ereignisse des Konzils, wie die nach römisch-amtlicher Zählung 21. ökumenische Synode bezeichnenderweise durchgängig apostrophiert wird, in weitere kirchen-, frömmigkeits- und theologiegeschichtliche Be­züge einzuordnen, fehlen völlig.
Über die Ursachen dieser verengten Wahrnehmung gibt der erste Block von Beiträgen Auskunft. Nach dem instruktiven Be­richt des Herausgebers über »Konzilsforschung im deutschsprachigen Raum« (13–25) gewährt G. Wassilowsky unter dem Titel »Kontinuum-Reform-(Symbol-)Ereignis« (27–44) Einblicke in brisante Deutungskontroversen, die in der römisch-katholischen Kirche schon lange schwelen und 2005 offen ausgebrochen sind. Damals mahnte der Kurienbischof Agostino Marchetto eine Deutung des II. Vatikanums an, welche sich auf dessen rechtsverbindliche Dokumente konzentrieren und diese als kontinuierliche Wei­terführung der Legislatur des höchsten kirchlichen Lehramtes deuten sollte. Damit opponierte er gegen eine vor allem von Giuseppe Alberigo und seinen Mitarbeitern mit großem Aufwand favorisierte Lesart, welche dem Konzil als »Ereignis« ein Gewicht zumisst, welches die seiner Dokumente weit übertrifft: Das Konzil habe nicht bloß die verbindliche Selbstexplikation der Kirche normativ fortgeschrieben, vielmehr habe es eine Transformationsdynamik freigesetzt, welche über diese seine eigenen Gesetzgebungsakte mit zwingender innerer Folgerichtigkeit zu ganz neuen Ufern hinaustreibe. Schon Papst Johannes Paul II. hatte diese Deutungslinie deutlich in Frage gestellt, als er den Codex Iuris Canonici von 1983 als die maßgebliche wirkungsgeschichtliche Fortschreibung der Konzilsdekrete bezeichnete (vgl. St. Voges, Testfall Ökumene. Die Rezeption des II. Vatikanischen Konzils in der Vorbereitung der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, 201–221, hier: 203) – es sei dem Außenstehenden die Frage gestattet, ob nicht auch der Weltkatechismus von 1995 hier zu nennen wäre. Benedikt XVI. hat dann 2005 in seiner Weih­-nachtsansprache vor der Kurie klar Stellung bezogen und im Wi­derstreit zwischen Hermeneutiken des »Bruchs« und der »Kontinui­tät« für eine solche der »Reform«, wie er sie nannte, plädiert: Im lehrenden und Recht setzenden Selbstvollzug bewahrt die Kirche ihre Kontinuität, indem sie dem geschichtlichen Wandel Rechnung trägt. Ungeachtet dieser Voten der Päpste, denen ja nach den einschlägigen Bestimmungen des II. Vatikanums über die allein durch die päpstliche Autorisierung rechtsgültigen Konzilsdokumente die Deutungshoheit zukommt, plädiert Wassilowsky jedoch vehement für den Vorrang des Ereignisses: Das Konzil sei nach Mt 18,20 »wirksame Darstellung und Herstellung der Präsenz Gottes in der Welt« (40) – damit eröffnet er einen dankenswert deutlichen Blick in die Abgründe, die zwischen »liberalem« Katholizismus und Protestantismus klaffen. Mit Wassilowskys Beitrag ist klar, in welchen Spannungsfeldern sich »Konzilsforschung«, wie sie hier verstanden wird, bewegt. Die Reihe der Beiträge, welche einzelnen Konzilsvätern bzw. Beziehungsgeflechten in ihrem Kreis ge­widmet sind, gibt Gelegenheit, die Deutungsalternativen am historischen Detail zu bedenken. Aufschlussreich ist hier be­sonders der Aufsatz von D. Burkard über die Kardinäle Bea und Ottaviani (45–66). Er zeigt, wie das von Zeitgenossen als neuartig empfundene »ökume­nische« Agieren des deutschen Jesuiten Bea durch Umakzentu­-ie­r­ungen und Schwerpunktverlagerungen bruchlos aus dessen »vor­konziliarer« Lebensgeschichte und Tätigkeit hervorwuchs – der Beichtvater Papst Pius’ XII. hatte es ja immerhin ge­schafft, den Pontifikatswechsel zu Johannes XXIII. nicht nur schadlos zu überstehen, sondern in dessen Zuge auch noch einen erheblichen Karrieresprung zu vollführen. In den Kämpfen mit seinem Widersacher Ottaviani waren Sachdifferenzen anscheinend eher taktisch-strategische Mittel zum Zweck im kurialen Macht- und Ränkespiel. Obwohl Bea dem nichtkatholischen Christentum ein freundlich zugewandtes kureales Antlitz zeigte, blieb er, was er immer gewesen war – nämlich ein Rückkehr-»Ökumeniker« reinsten Wassers (vgl. 61). Hier und in den schon erwähnten Beiträgen über Döpfner und Frings lässt sich übrigens sehr genau studieren, wie die Konzils­päpste es bewerkstelligten – gerade in und mittels der systemimmanent notwendigen Rivalität von Kurie und Konzilsvätern, die ja auch schon am Tridentinum und am I. Vatikanum zu beobachten war –, die Autorität des Nachfolgers Petri zu wahren und zu festigen. Be­zeichnend ist der Bericht davon, wie Döpfner zum Heiligen Vater einbestellt wurde, weil er Missliebiges zum Ablass geäußert hatte (vgl. G. Treffler, Kardinal Léon-Joseph Suenens und Kardinal Julius Döpfner, 81–91, hier: 87).
Der dritte Teil des Bandes enthält Beiträge zu den Wirkungen des Konzils. »Rezeption« heißt hier der Schlüsselterminus, der seinerseits ganz unterschiedlich ausgelegt werden kann. S. Holzbrecher (Basisgemeindliche Rezeption des Konzils in der DDR, 191–199) zeigt das sehr eindrücklich, indem er gegenüber einem spe­zifisch kirchenrechtlichen, auf Gehorsam konzentrierten Re­zeptionsbegriff einem allgemein-kommunikationstheoretischen den Vorzug gibt, der »Rezeption als eigenständigen, freien, ergebnisoffenen und wechselseitigen Verstehensakt begreift« (191). Voller Staunen liest man, wie Ende der 60er Jahre mancherorts mit »der Beteiligung von Priestern und Laien an der Erstellung von Vorschlags­listen für Bischofsernennungen« (197) experimentiert wurde. Hier wurde, so der Vf., »offensichtlich eher der Geist als der Buchstabe des Konzils rezipiert« (ebd). Der Beitrag von Voges über den Testfall Ökumene (s. o.) ist sehr lesenswert, sofern er bezeugt, dass der immer wieder beschworene ökumenische Aufbruch jener Jahre sehr viel mit der Begeisterung der konzils-enthusiastischen Kirche von sich selbst zu tun hatte, mit echtem Interesse an außerkatholischem Christentum jedoch so gut wie nichts. Mit diesem Einblick in die zunächst reformeuphorische und dann immer missmutiger werdende Binnenfixierung der kirchlichen Aufmerksamkeit er­reicht der Beitrag die ernüchterte und ernüchternde Gegenwart der nachkonziliaren Katholischen Kirche – wie auch R. Oehmen-Vieregge in ihrer Studie über »Strukturentwicklungen in der Erzdiözese Köln und der Erzdiözese München und Freising nach dem II. Vatikanischen Konzil« (223–242).
Insgesamt bietet der Band dem konfessionskundlich interessierten Leser reiche Einblicke in gegenwärtige innerkatholische Klärungsprozesse. Schade nur, dass er so sparsam ausgestattet ist: Er enthält nicht einmal ein Verzeichnis der Autoren, geschweige denn Register.