Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2013

Spalte:

959–961

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Stegemann, Ekkehard W.

Titel/Untertitel:

Der Römerbrief: Brennpunkte der Rezeption. Aufsätze. Ausgewählt u. hrsg. v. Ch. Tuor-Kurth u. P. Wick.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2012. 281 S. Kart. EUR 29,20. ISBN 978-3-290-17560-3.

Rezensent:

Friedrich W. Horn

Die Herausgeber haben insgesamt 13 Aufsätze Ekkehard W. Stegemanns, im Wesentlichen aus den Jahren 2006–2012, zusammengestellt und in drei Abschnitte gefasst: a) Kreative Zugänge zum Römerbrief; b) Paulus und Israel; c) Der Römerbrief im Kontext kulturhistorischer Diskurse. Außerhalb dieser drei Abschnitte wurde noch ein Beitrag zur Monotheismus-Debatte angefügt, der S.s hermeneutischen Zugriff programmatisch verdeutliche, nämlich »auf die Anfälligkeit unserer Diskurse gegenüber dem ›kulturellen Code‹ des Antisemitismus« hinzuweisen (12). Der Untertitel lenkt die Lektüre in eine falsche Erwartungshaltung, da ausschließlich im ersten Abschnitt, der auf Calvin, de Wette, Baur und Barth ausführlicher eingeht, die Rezeption im eigentlichen Sinn direkt angesprochen wird. Die Herausgeber haben eine Einleitung vorangestellt, in der sie auf die meisten der abgedruckten Aufsätze eingehen und darüber hinaus den Ansatz der Paulus-Interpretation S.s würdigen. Leider fehlen in dem Band Stellen-, Sach- und vor allem ein Namenregister, was bei einem Werk, das sich der Rezeptionsgeschichte widmet, sinnvoll gewesen wäre. Auch eine Zusammenstellung der Erstveröffentlichungsorte fehlt, auch wenn die Angaben bei den einzelnen Publikationen stets nachträglich verzeichnet worden sind.
Die Herausgeber betonen, dass S. einen eigenen »dritten« Weg der Paulusinterpretation entwickelt habe, der zwischen dem lu-therischen, an der Rechtfertigungslehre orientierten Verstehens-modell (Entgegensetzung von Glaube und Tora) und der New Perspective (Universalismus auf Kosten eines partikularistischen jü­dischen Nationalismus) bzw. der Zwei-Bünde-Theologie (radikale neue Paulusperspektive) angesiedelt sei. Cantus firmus der Theologie des Paulus sei vielmehr, wie die Aufsätze in Abschnitt 2 belegen möchten, ein apokalyptisches Wirklichkeitsverständnis, das in der Äonenwende der Auferweckung Christi gründet. Der Glaube sei für Paulus nicht ein exklusiver Weg für Nichtjuden, um am eschatologischen Heil zu partizipieren, sondern gelte für Juden und Heiden. Gleichwohl werde damit eine heilsgeschichtliche Differenz nicht aufgehoben, da die Universalität des Heils die Erwählung Israels bleibend einschließe. S. zeige nämlich auf, »dass der Messiasglaube des Paulus trotz der Teilhabe der Glaubenden aus den Völkern am eschatologischen Heil durch und durch jüdischer Natur ist« (10). In dem Aufsatz »Alle von Israel, Israel und der Rest«, der sich mit der Auslegung von Röm 9,6 befasst, geht S. auf die Dissoziation ein, die darin besteht, dass »ein ›Israel‹, das an der endzeitlichen Inkraftsetzung seiner heilsgeschichtlichen Berufung noch nicht teilnimmt« (204), zu unterscheiden ist von dem »Nicht alle aus Israel/Rest«, die an der endzeitlichen Inkraftsetzung ihrer Bestimmung gegenwärtig schon teilnehmen. Gegen Karl Barth (KD II,2) betont S., dass die endzeitliche Errettung nicht an Chris­tus, wohl aber an der Kirche vorbeigehe, da die Einheit von dem an Christus glaubenden Israel und den Völkern erst in der Parusie Christi hergestellt werde. Insofern ist die Kirche kein Platzhalter, in den das nichtgläubige Israel integriert werden müsse, um an dem endzeitlichen Heil teilzunehmen.
Im Blick auf die Identitätsbestimmung der Glaubenden unterscheidet S. drei Linien: a) Die Gotteskindschaft. Sie bezieht sich auf »die Partizipation der Christusgläubigen am Transformationsprozess in die Ebenbildlichkeit des Gottessohns Jesus Christus hinein« (119). b) Der apokalyptische, genealogische Gründungsmythos. Aus Adamskindern, Teilhabern seines Geschicks an Sünde und Tod, werden Brüder des zweiten Adams, Christus, Teilhaber seiner Gerechtigkeit und seines Lebens. c) Die patrilineare Abstammung. Abraham als Ahnherr repräsentiert die ihm verheißene und im Gotteswort geschaffene Nachkommenschaft, nämlich Juden und Berufene aus den Völkern, ohne dass Heidenchristen zu Israel werden oder dass Israel zum Gesamtbegriff der Glaubenden wird (120). In der Geschwistermetaphorik findet auf der horizontalen Ebene die Zusammengehörigkeit einen Ausdruck, ohne die ethnischen Differenzen der Christusgläubigen aufzuheben.
Die Beiträge zur Rezeption in Abschnitt 1 firmieren als »Krea­tive Zugänge« und suchen »den kritischen Dialog mit großen Paulusexegeten der Vergangenheit (Calvin, de Wette, Barth) und der Gegenwart« (9). S. seinerseits beruft sich vornehmlich auf solche Exegeten, die dem sensus literalis verpflichtet sind. »Was an der Auslegung de Wettes besonders gefällt, das ist ihre […] exegetisch-philologische Sprödigkeit« (44). Es ist überhaupt zu begrüßen, dass neben Baur auch de Wettes Kommentar zum Römerbrief ausführlich gewürdigt wird, zumal die Interpretation dieser beiden Ge­lehrten »den Rahmen abgesteckt (hat), innerhalb dessen der wei-tere Diskurs über Ursprung und Zusammensetzung der Ge­meinde in Rom und über den Abfassungszweck des Römerbriefs sich be­wegte und teilweise noch heute bewegt« (46). Von Calvin sei im Blick auf Kürze und Durchsichtigkeit der Auslegung zu lernen, dass das Prinzip der Kürze zurückgreift auf Senecas Rhetorik und dass hierbei die philologische und rhetorische Analyse des Textes in Verbindung mit der kulturgeschichtlichen Kontextualisierung jeglicher Weitschweifigkeit (etwa auch in Exkursen) entgegenstehen muss (18).
In Abschnitt 3 kommt der Römerbrief im Kontext kulturhistorischer Diskurse zur Sprache. Der Aufsatz »Coexistence and Transformation: Reading the Politics of Identity in Romans in an Im-perial Context« zeigt auf, dass das Wirklichkeitsverständnis des Paulus sowohl von der jüdischen Apokalyptik her als auch durch die Übertragung der Macht an den Kyrios Christos durch einen anti-imperialen Grundzug ausgezeichnet ist (dazu auch der Aufsatz »Apokalyptik und Universalgeschichte im antiken Herrschaftsdiskurs«). S. legt größten Wert auf die Feststellung, dass die jüdisch-nationale Apokalyptik gegen die abendländische Rezeptionsgeschichte nicht durch die Christologie verschlungen werden darf. »Der Gottessohn und Kyrios Jesus ist und bleibt heilsgeschichtlich der Gesalbte aus Davids Samen und der Menschensohn. Und dieser Bezug zur messianischen Idee ist durch das Chris­tos/Gesalbter immer mitgemeint […]« (237).
Ein kleiner, zweiseitiger Beitrag trägt den Titel »›Mein Paulus‹: Blicke auf einen Vielgestaltigen«. S. schreibt: »Ich habe Paulus so im Zusammenhang der jüdischen Apokalyptik geortet. Der Jude Paulus war ein Prophet der Katastrophe der Menschheit und ein Visionär der Rettung aus ihr und zugleich dabei ein Deuter heiliger Bücher, nämlich der heiligen Schriften der Juden. Es ist die messianische Idee des Judentums, und zwar in ihrer apokalyptischen Gestalt, die seine Weltdeutung bestimmte.« (87)