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Ausgabe:

September/2013

Spalte:

957–959

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Rehfeld, Emmanuel L.

Titel/Untertitel:

Relationale Ontologie bei Paulus. Die ontische Wirksamkeit der Christusbezogenheit im Denken des Heidenapostels.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2012. XV, 518 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 326. Kart. EUR 94,00. ISBN 978-3-16-152012-9.

Rezensent:

Friedrich W. Horn

Emmanuel L. Rehfeld beschreibt in der Einleitung seiner umfangreichen Studie, einer im Wintersemester 2011/12 von der TU Dortmund angenommenen Dissertation, das Thema der Untersuchung folgendermaßen: »Paulus unterscheidet im Blick auf die Christen eine ›gegenwärtige Christusbezogenheit‹ (II.), die er der Zeit des ›Glaubens‹ (πίστις) zuordnet und mit dem ›Sein in Chris-tus‹ (ἐν Χριστῷ εἶναι) identifiziert, von einer ›zukünftigen Chris­tusbezogenheit‹ (III.), die er der Zeit des ›Schauens‹ (εἶδος) zuordnet und mit dem ›Sein mit/bei Christus‹ (σύν Χριστῷ εἶναι) identi­fiziert. Das Problem des Verhältnisses dieser zwei Seinsweisen er­-fordert eine Besinnung auf die sog. ›Karsamstags-Existenz‹ der Christen (IV.), die die Notwendigkeit einer ontologischen Binnen­-differenzierung aufzeigt, mit deren Hilfe das oft verhandelte Problem der sog. ›eschatologischen Spannung‹ bzw. des Verhältnisses von ›Schon jetzt‹ und ›Noch nicht‹ einer Lösung zugeführt werden kann, die die bisherige Konzentration auf rein zeitliche Erklärungsmuster […] überwinden dürfte« (9 f.).
Die römischen Ziffern in diesem längeren Zitat sind bezogen auf drei große Kapitel im Hauptteil der Arbeit, deren Inhalt exakt den o. g. Aspekten entspricht (44–412). Gerahmt wird die Untersuchung dieser drei Themen durch eine Einleitung, die das Problem einer relationalen Ontologie beschreibt, und durch einen Ausblick, der die Bedeutung des relational-ontologischen Denkens für das Ganze der paulinischen Theologie aufzeigt, sowie durch einen Anhang. Auch im Folgenden werden in dieser Rezension längere Textpassagen der Arbeit R.s zitiert werden, da nur so adäquat wiedergegeben werden kann, was R., der alle Möglichkeiten eines vielfältig gestalteten Schriftbildes ausnutzt, sagen will. Methodisch wird die Argumentationskraft traditions- bzw. religionsgeschichtlicher Überlegungen als problematisch beurteilt, eine paulusimmanente Exegese hingegen bevorzugt (7 f.).
Was meint »relationale Ontologie«? R. wagt folgende Definition: »daß [sic!] nichts, was ›in Wirklichkeit ist‹, irgendwie unabhängig von Relationen existiert, sondern daß [sic!] [alle?] Relationen eminent seinskonstitutiv sind und nicht nur akzidentiellen Charakter haben« (41). Paulus sei nicht an einer bestimmten Relation gelegen, sondern an der ontischen Wirksamkeit von Beziehungen. R.s Augenmerk richtet sich daher auf die ontische Wirksamkeit der Christusbezogenheit (43).
Was meint Karsamstags-Existenz? »Aus der vorläufigen (!) In­konzinnität des Geschicks Christi und der Christusgläubigen er­gibt sich eine zwischenzeitliche ›Spannung‹, die präzise darin gründet, daß die Christen bereits jetzt zwar des Todes Christi teilhaftig sind, aber noch nicht seiner Auferstehung. Sie leben mithin eine Karsamstags- oder Grabes-Existenz (Röm 6,4) – zwischen der Kreuzigung-mit-Christus (Röm 6,3.5a.8a) als prinzipieller (!) Entledigung von der Sünde und der (noch ausstehenden) Auferstehung als Leben-mit-Christus (Röm 6,5b.8b), die als umfassende Neuschöpfung über 2Kor 5,17 hinausgehend auch ihren (noch sterblichen) Körper umfaßt.« (409)
Die sogenannte Formel ἐν Χριστῷ εἶναι ist wohl eine pauli­nische Sprachschöpfung und als solche analogielos (233). Sie könne, so R., in ihrem Gehalt nicht vollkommen erschlossen werden (al­-lenfalls und eventuell in einer theologia regenitorum!), da die Verständnisschwierigkeiten in der Analogielosigkeit des Christusgeschehens begründet seien (47). Freilich bietet R. eine ausführliche philologische und theologische Interpretation der Formel (233–280). Um jedoch nicht bei der problematischen Interpretation der Formel an sich stehenzubleiben, untersucht R. weitere Texte, in denen mit anderem sprachlichen Ausdruck die Gemeinschaft zwischen Chris-tus und den Christen thematisiert wird. So ergibt sich ein Verstehensrahmen für das, was Paulus mit ἐν Χριστῷ εἶναι im Blick hat (51). Im Ergebnis dieses Abschnittes aktiviert R. den Begriff der Perichorese ebenso wie den der Christ-Innigkeit. Er begreift diese als asymmetrische perichoretische Einheit und verortet sie in den Herzen: »Mit der doppelten Formel vom ›Sein in Christus‹ und dem ›Sein Christi in uns‹ entfaltet Paulus die gegenwärtige Chris-tusbezogenheit des Christen einerseits als externe Seinsbestimmung (›Sein in Christus‹), andererseits als innewohnende Lebenskraft (›Christus in uns‹).« (316) Das Herz ist »gewissermaßen […] ›Ansatzpunkt‹ für die schlecht-hin konstitutive relational-ontologische Bestimmtheit des Menschen« (319). Solche Christ-Innigkeit wie­-derum sei »die Bedingung der Möglichkeit der Teilhabe am Werk Christi, das letztlich auf die Auferstehung von den Toten […] zielt« (316). Die Konsequenz dieser Innigkeit ist nach R., dass »Paulus nirgends einen Rest an Eigenpersönlichkeit des Christen gegenüber seinem Herrn, noch auch eine gewisse Selbständigkeit [sic!] des Christusgläubigen gegenüber der Gemeinde bzw. dem ›Leib Chris­ti‹« behauptet (283 f.). Hierfür wählt R. die Beschreibung eines »so­teriologisch-›christianologischen‹ ὁμοούσιος« (283).
R. legt nun mit mehrfachen und für mich oft nicht nachvollziehbaren Verweisen auf Aussagen O. Hofius’ (vgl. z. B. die dogmatischen Kautelen von Hofius zur Taufformel; 270 f.) größten Wert darauf, dass diese Christ-Innigkeit »sich einem wie auch immer gearteten, definitorischen Sakramentsverständnis verweigert« (322). »Das durch und durch pneumatische Geschehen des Eintritts in die ganzheitliche ›Christ-Innigkeit‹ gründet ganz im Christusgeschehen auf Golgatha. Seine Zueignung freilich verdankt sich dem Geist« (322), der »nicht erst ein Ergebnis des Glaubens oder der Taufe [ist], sondern die notwendige und hinreichende Bedingung ihrer Möglichkeit« (321). R. wendet sich dezidiert gegen ein sakramentales Verständnis der Christ-Innigkeit (vgl. den Exkurs VI auf S. 268–276: Christus-Inkorporation durch die Taufe?). Im Blick auf die Taufe lehnt R. jegliches substanzontologisches oder sakramental-ma­gisches Denken für Paulus ab, da dieser eben nicht sakramental-statisch gedacht habe, »sondern in der Christ-Innigkeit eine höchst lebendige Beziehung sah« (274). Daher wird auch für die Formel ἐν Χριστῷ εἶναι ein lokal-seinshaftes Verständnis als ungeeignet be­trachtet und durch ein personal-seinshaftes ersetzt (282). Der Eintritt in die Christusförmigkeit wird nicht in der Taufe vollzogen, sie ist mit der Taufe, die »eine gewisse Rolle am Beginn des Christenlebens« spielt (274), allerdings verbunden (287). R. möchte gar manche ge­genwärtigen Paulus-Forscher in ihrem »übersteigerten Sakramentalismus« in der Nähe der Christen Korinths an­siedeln (273) und folglich die weithin behauptete sakramentale Grundlage der Christ-Innigkeit durch das Modell einer in vielseitigen Relationen wirksamen Herzensfrömmigkeit ersetzen. In dem Anhang, der relational-ontologische Strukturen im Ganzen der paulinischen Theologie aufzeigen will, werden die Vorbehalte ge­gen den substanzontologischen Ansatz ausgeweitet (423).
Diese Rezension hat versucht, ausschließlich die leitenden Thesen der Arbeit vorzustellen. Hier ist nicht der Raum, auf die pe­-nible exegetische Arbeit R.s oder auf das umfängliche Gespräch mit der Forschung einzugehen, das sich in einem gelegentlich mä-andrierenden Anmerkungsapparat niedergeschlagen hat, der den Haupttext zu erdrücken scheint (234–237.369–376 u. ö.). Allen Re­spekt vor der Belesenheit R.s, aber hier wäre manche Kürzung sinnvoll und auch angebracht gewesen! Der theologische Standpunkt R.s mit der Verwurzelung in der reformierten Theologie und in einer moderaten evangelikalen Prägung wird stets prägnant zum Ausdruck gebracht. Er findet auch darin Gestalt, dass exegetische Fragen gerne mit Verweis auf dogmatische Positionen beantwortet werden, was nicht immer zur Klärung der Fragen beiträgt. Auch wenn das eigentliche Thema der Untersuchung, die sog. Christus-Mystik bei Paulus, von der Textbasis her einen eher schmalen Ausgangspunkt darstellt, so öffnet R. diesen in seiner Arbeit nahezu auf das Ganze der paulinischen Theologie hin und fügt überdies noch zwei Anhänge an, die auch als separate Publikation denkbar gewesen wären.