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Ausgabe:

September/2013

Spalte:

949–951

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Ebner, Martin

Titel/Untertitel:

Die Stadt als Lebensraum der ersten Chris­ten. Das Urchristentum in seiner Umwelt I.

Verlag:

Göttingen u. a.: Vandenhoeck & Ruprecht 2012. 391 S. m. Ktn., Abb. u. Tab. = Grundrisse zum Neuen Testament. Das Neue Testament Deutsch – Ergänzungsreihe, 1/1. Geb. EUR 79,95. ISBN 978-3-525-51356-9.

Rezensent:

Alexander Weiß

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Bendemann, Reinhard von, u. Markus Tiwald[Hrsg.]: Das frühe Christentum und die Stadt. Stuttgart: Kohlhammer 2012. 256 S. m. 1 Kt. = Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, 198. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-17-022073-7.


Das frühe Christentum nahm zwar seinen Anfang in eher ländlichen Gebieten, fasste dann jedoch relativ bald in den Städten des östlichen Mittelmeerraumes Fuß, in deren Umgebung es sich behaupten musste und in deren Milieu die meisten der neutestamentlichen Schriften entstanden sind. Das Thema des Frühchris­tentums als städtisches Phänomen ist seit mehreren Dekaden in der Forschung wohl etabliert und bietet reichlich Anknüpfungspunkte an die Altertumswissenschaft.
Der Sammelband Das frühe Christentum und die Stadt geht zurück auf zwei Tagungen einer Arbeitsgemeinschaft, zu der sich Neutestamentler der Universitäten des Ruhrgebietes zusammengeschlossen haben. Der Band will, etwas vage, »gemeinsame Grundzüge« der Begegnung zwischen Stadt und frühem Christentum aufzeigen. In manchen Beiträgen wird der Bezug zum Thema ›Stadt‹ eher postuliert als aufgezeigt. Einigen Beiträgen gelingt der Brückenschlag allerdings auf anregende Weise. Dazu ist vor allem die äußerst lesenswerte Einleitung der beiden Herausgeber zu zählen, in der unter anderem die berechtigte Frage gestellt wird, ob die strenge Unterscheidung zwischen Stadt und Land überhaupt aufrechtzuerhalten ist, da nach griechisch-römischem Verständnis eine Stadt (polis, civitas etc.) mit dem ihr zugehörigen Territorium eine politische Einheit bildet. Nach einer Diskussion von Webers ökonomischer Definition der Stadt plädieren die Herausgeber da­für, generalisierende Stadt-Konzepte zu meiden und sich bei der Frage nach dem, was denn eine Stadt ausmache, besser an beispielsweise politischen, soziokulturellen, städtebaulichen oder eben auch ökonomischen »Parametern« zu orientieren. Für die neutestamentliche Forschung sehen sie Anknüpfungspunkte vor allem auf zwei Gebieten: der frühchristlichen Sozialgeschichte und dem Einfluss von Stadtkonzeptionen auf die frühchristliche Theologiebildung.
Nach welchen Gesichtspunkten genau die elf Beiträge sortiert wurden, wird nicht recht ersichtlich. Die für das Leitthema interessantesten seien kurz genannt. Reinhard von Bendemann wartet mit der bemerkenswerten These auf, dass Mk keine »ländliche Perspektive« inhärent sei, sondern ebenfalls eine »städtische Perspektive« biete. An drei Beispielen wird die literarische Inszenierung von Stadt und Land in Mk ausgeführt, an der gleichsam der Übergang des frühen Christentums vom Land in die städtischen Zentren ablesbar sei. Rainer Riesner seziert auf mustergültige Weise die soziale Zusammensetzung der Jerusalemer Gemeinde, die in der Diskussion um das ›städtische Christentum‹ oft übersehen wird. Markus Tiwald sieht eine große Vielfalt unter den frühen Christen in Ephesos, fragt, wie es dazu gekommen sei, und stellt zum Verhältnis der verschiedenen Gruppierungen u. a. die Hypothese auf, die Trennlinien seien weniger zwischen Juden und Christen verlaufen als zwischen »konservativeren« ländlichen und »liberaleren« städtischen Kreisen. Alexander Weihs sieht das Ziel des Kollektenaufrufs in 2Kor 8–9 in einem Ausgleich: Die Korinther geben den Jerusalemern von ihrem materiellen Überfluss und partizipieren dafür an deren geistlichen Gütern. Jan Schäfer versteht im Gefolge des spatial turn die Städte der Apg als narrativ inszeniertes »christliches Städtenetzwerk«. Das hier erprobte Zentrum-Peripherie-Modell hat allerdings in den Kulturwissenschaften seine Blüte allmählich überschritten. Volker Rabens fragt nach der Missionsstrategie des Paulus in geographischer und praktischer Hinsicht. Er wollte sicher dorthin gehen, wo noch keiner das Evangelium verkündet hatte, aber dass in Röm 15,19 mit κύκλῳ wirklich ein »Halbkreis« von Jerusalem nach Illyrien bezeichnet sein soll, erscheint doch ebenso fraglich wie das modernistische Konzept, Paulus habe die »Anonymität« der Städte als Vorteil zum Schutz kleiner christlicher Gruppen gesehen. Peter Wick sieht den Stadt-Land-Antagonismus in der Garten-Stadt des himmlischen Jerusalem am Schluss der Offb aufgehoben. Dass die vollkommene Gartenstadt ein »altes Ideal der Polis bei vielen Völkern« (243) gewesen sein soll, erscheint nicht nur, weil »Polis« eine spezifisch griechische Form der Stadtorganisation meint, fragwürdig. Die Stadt wird, so Wick, in der Vollendungstheologie der Offb zum Inbegriff der Kirche. Aber ist die Kirche der Offb nicht eher die Gesamtheit der Bürger der Garten-Stadt?
Martin Ebners opulenter Band ersetzt nun den zweiten Teil von Eduard Lohses in der gleichen Reihe erschienenen Um­welt des Neuen Testaments. Die Konzeption des Bandes nimmt die Entwick­lung der Forschung konsequent auf: Die frühen Christen werden als Teil der urbanen Welt des östlichen Mittelmeerraumes gesehen. Die städtischen Lebens- und Sozialformen sind ihnen gleichzeitig Heimat und Kontrastfolie, von der sie sich abheben wollen. E. zeichnet ein kenntnisreiches, quellengesättigtes und niemals langweiliges Panorama der Stadt, das sich an alten wie aktuellen Fragestellungen der neutestamentlichen Forschung orientiert und seinen Zweck als Lehrbuch gänzlich erfüllt. Die einzelnen Kapitel behandeln »Stadt und Religion«, »Architektur, Politik und Kultur«, »Kult«, »Kaiserkult«, »Haus«, »Vereine«, »Mysterienkulte«, »Philosophie« sowie »Religion am Rand der Stadt«, i. e. Orakel, Heilkulte und Magie. Dass sich vieles »präzisieren und differenzieren« (366) ließe, weiß E. selbstverständlich, und die folgenden Anmerkungen aus altertumswissenschaftlicher Sicht sind im Bewusstsein der Grenzen und Möglichkeiten eines Überblickswerkes ge­schrieben.
Im ersten Kapitel erklärt E. modellartig die Stadt als übergeordnete Ebene über dem »Haus«. Beide Ebenen würden getragen von den Säulen (besser: durchdrungen von den Bereichen) Kult, Politik und Bildung. Durch die römische Herrschaft sei nun in der Kaiserzeit das Imperium als übergeordnete Ebene hinzugekommen, außerdem habe sich aufgrund der »römischen Entmachtungen« (37) auf der städtischen Ebene eine »mittlere Ebene« zwischen Stadt und Haus herausgebildet, zu der im Bereich des Kultes Mysterien- und Heilkulte, im Bereich der Politik das Vereinswesen, im Bereich der Bildung die Philosophie zu zählen seien. An dieses Modell sind einige Anfragen zu richten. Zum einen überschätzt es die Auswirkungen der römischen Herrschaft, wie überhaupt an manchen Stellen zu stark die imperiale römische Perspektive eingenommen wird und weniger die lokale. Die städtischen Volksversammlungen sind keineswegs entmachtet, sonst würde bspw. der grammateus von Ephesos nicht darauf hinweisen, dass die ekklesia regelmäßig einberufen wird (Apg 19,29). Die Städte waren sicher in ihren außenpolitischen Möglichkeiten beschnitten, aber, und dies wäre der zweite Einwand, das waren sie schon seit hellenistischer Zeit. Auch sind die Vereine wohl weniger als Ersatzinstitutionen für die Elite zu verstehen, in denen politische Praktiken ausgeübt werden können, die auf der städtischen Ebene ihre Bedeutung verloren hätten, sondern eher bieten sie ökonomischen Aufsteigern, die es nicht bis »ganz oben«, in den Stadtrat, geschafft haben, Möglichkeiten der quasi-politischen Betätigung. Sie sind also ein Substitut, aber nicht für Ab-, sondern für Aufsteiger. Vor allem E.s einführendes »Modell« könnte für allfällige weitere Auflagen noch einmal überdacht werden.
Die einzelnen Kapitel beschließen jeweils kurze, immer anregende Überlegungen zur Verortung der Christen. Auch hier nur eine Bemerkung: E. sieht, ganz im Zug der Zeit, große Ähnlichkeiten zwischen den Vereinen und den frühchristlichen Gemeinden hinsichtlich Sozialform und -strukturen. Versteht man die früh­-christlichen Gemeinden mit Edwin Judge oder jetzt Claire Smith als scholastic communities, wären allerdings die Philosophenschulen die nächsten Verwandten.
Dem Buch sind viele, nicht nur studentische, Leser zu wünschen.