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Ausgabe:

September/2013

Spalte:

947–949

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Weber, Beat

Titel/Untertitel:

Jona. Der widerspenstige Prophet und der gnädige Gott.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2012. 192 S. m. Abb. = Biblische Gestalten, 27. Kart. EUR 16,80. ISBN 978-3-374-03050-7.

Rezensent:

Meik Gerhards

Von den fünf Teilen des Buches bietet Teil C einen Einblick in die Wirkungsgeschichte des Jonabuches, Teil D eine Übersetzung der biblischen Jonatexte und Teil E Verzeichnisse. Exegetisch relevant sind vor allem die Teile A und B.
In Teil A nennt Beat Weber als Verstehenskomponenten neben dem Schriftinhalt die Kontexte der Interpretationsgemeinschaften und des biblischen Kanons (14 f.). In Teil B stellt er auf dieser Basis in fortlaufender Exegese eine doppelte Leseweise vor: Die Erstperspektive betrachtet das Jonabuch vor dem geschichtlichen Hintergrund des aus 2Kön 14,25 bekannten Propheten Jona (Mitte 8. Jh. v. Chr.; 30 f.), die jeweils in Petit-Druck folgende Zweitperspektive als Teil des Zwölfprophetenbuchs.
In der Erstperspektive weicht der Vf. von der üblichen Auffassung des Jonabuches als fiktionaler Lehrerzählung aus nachexilischer Zeit ab; vor allem der Umstand, dass Ninive im Buch nicht zerstört wird, spreche für eine Entstehung vor der Zerstörung Ninives 612 v. Chr. (5.23 f.).
Da Jon 4,1–4 für das Gesamtverständnis zentral ist, weil Jona hier über die Verschonung Ninives klagt und zugleich erkennen lässt, warum er sich dem Auftrag eigentlich entziehen wollte, sei die Auslegung dieser Stelle exemplarisch besprochen. Nach W. bezieht sich Jonas Klage in 4,2 darauf, dass Gottes Reue von vornherein feststand (106). Jona zitiert Ex 34,6 f., aber mit Auslassung des Gerichtsaspekts aus V. 7 und zugleich ergänzt um eine Bemerkung zur Reue Gottes, auf der nach W. die Pointe liegt und die er, wenn auch kaum plausibel, in der 3. Person wiedergibt: »und er es sich reuen lässt wegen des Übels« (107). Daraus folge: »Weil der HERR immer gnädig ist und des Unheils immer sich reuen lässt, wird jede Gerichtsankündigung sinnlos … Modern gesprochen taucht das Problem der billigen Gnade auf.« (107) Ein Vergleich mit Ex 32–34 als Referenztext vertieft die Deutung: Geht dort die Reue Gottes (Ex 32,7–14) der Gnadenformel (Ex 34,6) voraus, geht sie also nicht im Bekenntnis zur Gnade auf, sei in Jon 4,2 genau das der Fall: Jona setze fälschlich Gnade und Reue gleich und rücke beides »in den Rang einer Gesetzmäßigkeit« (109).
W.s hermeneutischer Ansatz, der neben dem Schriftinhalt kontextuelle Verstehensbedingungen berücksichtigt und so eine fortlaufende Auslegung des Jonabuches in mehrfacher Perspektive ermöglicht, ist – nicht zuletzt im Blick auf Diskussionen um den Buchcharakter des Dodekapropheton – weiterführend.
Wie sich am Grundverständnis und der Kernstelle Jon 4,1–4 zeigen lässt, leidet aber die Auslegung in der Erstperspektive erheblich darunter, dass W. dem Konsens einer nachexilischen Datierung des Jonabuches nicht folgt. Indem er die Erzählung auf dem Hintergrund der Mitte des 8. Jh.s liest, als Ninive noch nicht assyrische Hauptstadt war, muss W. annehmen, dass Jona in einer Zeit, in der nicht einmal eine assyrische Bedrohung Israels bestand, in ein assyrisches Regionalzentrum gesandt wird (47), dessen »Provinzgouverneur« in 3,6 »König von Ninive« heißt (94). Demgegenüber kommt dem exegetischen Konsens, dass das Jonabuch als nachexilische Erzählung die geschichtlich bekannten Größen Jona und Ninive aufgreift, ohne an einem historisch stimmigen Bild interessiert zu sein, deutlich mehr Plausibilität zu. Ganz sicher haben der Erzähler und seine Erstleser bei der großen Stadt voller Bosheit (Jon 1,2) an etwas anderes gedacht als an ein Oberzentrum eines entfernten Reiches, von dem für sie keine aktuelle Bedrohung ausging.
Eine Spätdatierung kann bei der Auslegung von Jon 4,1–4 etwa Jer 18,7 f. als Referenztext heranziehen, wonach der Zweck prophetischer Unheilsverkündigung im Umkehrruf liegt. Dann klagt Jona in 4,2 aber nicht, wie W. glaubt, über die billige Gnade Gottes, was nach der umfassenden Buße Ninives in 3,5–10 auch gar nicht angemessen wäre; vielmehr ärgert ihn, dass Gott gegenüber Ninive angekündigtes Unheil bereut wie nach Ex 32,14 gegenüber Israel und nach Jer 18,7 f. gegenüber Völkern und Reichen allgemein. Setzt Jon 4,2 das u. a. in Jer 18,7 f. vertretene Verständnis prophe­tischer Unheilsverkündigung voraus, geht es nicht, wie W. an­nimmt, um die Entwertung der Verkündigung durch eine »Ge­setzmäßigkeit« von Gnade und Reue, sondern darum, dass Gott dem bösen Ninive durch Jonas Sendung die Möglichkeit zu Um­kehr und Begnadigung eröffnet hat. Nachvollziehbar ist diese Reaktion, wenn Ninive als paradigmatisch böse gilt (48) oder konkreter als Hauptstadt einer bedrohlichen Großmacht bzw. als Großmachtsymbol schlechthin. Ein solches Verständnis Ninives kann weit über 612 hinaus literarisch aktualisiert worden sein; die Nichtzerstörung der Stadt im Rahmen der Erzählung ist also kein so deutliches Datierungskriterium, wie W. glaubt.
W. übergeht in der Erstperspektive Texte wie Jer 18,7 f., da er nur solche Referenztexte gelten lässt, die »gemäß der biblischen Zeitdarstellung von früheren Geschehnissen berichten« (31). Da Jeremia nach biblischer Darstellung später ist als der in 2Kön 14 ge­nannte Jona, sei Jer 18,7 f. als »Israel-Belehrung anhand von Jon 3« zu verstehen, nicht umgekehrt (103). W.s Distanzierung von den Rekonstruktionen der alttestamentlichen Wissenschaft (31) wirkt wie eine Flucht vor den Unsicherheiten historischer Kritik in den trügerischen Schutz des Biblizismus. Die Nichtabwägung histo­-rischer Plausibilitäten bedingt aber die genannten Nachteile für das Verständnis des Jonabuches. Von daher bedauert der Rezensent, W.s Buch Studierenden und interessierten Nichtexegeten nur unter großen Vorbehalten empfehlen zu können.