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Ausgabe:

September/2013

Spalte:

940–942

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Albertz, Rainer

Titel/Untertitel:

Exodus 1–18.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2012. 320 S. = Zürcher Bibelkommentare. Altes Testament, 2/1. Kart. EUR 41,50. ISBN 978-3-290-17642-6.

Rezensent:

Wolfgang Oswald

Der Kommentar von Rainer Albertz ist in der Reihe der Zürcher Bibelkommentare erschienen und auf zwei Bände ausgelegt. Der erste behandelt die Kapitel 1–18, bietet aber darüber hinaus eine Einleitung in das gesamte Exodusbuch und damit auch in die Kommentierung als Ganze. Die Leser werden für diese Standortbestimmung dankbar sein, denn der Kommentar von A. ist der erste diachron ausgerichtete zum Exodusbuch im deutschen Sprachraum seit der unvollendet gebliebenen Auslegung von Werner H. Schmidt (BK II). Schon in seiner Religionsgeschichte von 1992 hatte A. das Pentateuchmodell von Erhard Blum aufgegriffen, im Kommentar entwickelt er darauf aufbauend, aber auch davon ab­weichend ein eigenes Modell der Entstehung des Exodusbuches, das eingebettet ist in ein umfassendes Pentateuchmodell. Die Grundkoordinaten dieses Pentateuchmodells hat A. in den vergangenen Jahren in einer Reihe von Aufsätzen vorgestellt, auf die der Kommentar auch verweist (20). Im Anhang (315) findet sich ein Schaubild zur Pentateuchentstehung, in der Einleitung zum Kommentar eine Darlegung der Literargeschichte des Exodusbuches.
Im Abschnitt »Die Entstehung des Buches« (19–26) gibt A. für alle rekonstruierten Kompositionen zum einen eine Paraphrase ihres Inhalts, die das ganze Exodusbuch umfasst, und zum andern eine detaillierte Aufstellung der Verse und Teilverse, die im Bereich Ex 1–18 zur jeweiligen Schicht gehören.
Kernstück der literargeschichtlichen Rekonstruktion ist die Hy­pothese einer Grundkomposition, die auf das Exodusbuch beschränkt ist und die A. »Exoduskomposition« bzw. »KEX« nennt. Diese beginnt mit Ex 1,9 und endet mit der kurzen Episode von Moses glänzendem Gesicht in Ex 34,8–10.28–32*, die A. als Bundeserneuerung verstehen möchte (20). Der Verfasser dieser Komposition habe mehrere kurze schriftliche Vorlagen benutzt, die A. ebenfalls in ihrem »ungefähren Umfang« (21) rekonstruiert. Die Exoduskomposition KEX stamme aus der »fortgeschrittenen Exilszeit (um 540 v. Chr.)« (20).
Der Charakter der postulierten KEX lässt sich exemplarisch an Ex 3 zeigen. A. scheidet vor allem jene Stücke als spätere Erweiterungen aus, die über das Exodusbuch hinausweisen, so etwa die Aufzählung der Fremdvölker (3,8b.17b) und die Erwähnung der Erzväter (6a.16aβ), die vom Hexateuchredaktor stammen. Letz­-terem weist er auch den Abschnitt 3,12aβ–15 zu. Für die Grundschicht KEX verbleibt die Berufung Moses zur Herausführung des Volkes ohne Rückgriff auf die Erzväter und ohne Vorverweis auf die Landnahmeerzählung.
Auf die Grundkomposition folgte danach die »erste priesterliche Bearbeitung« bzw. »PB1«, die »weitgehend der sogenannten Priesterschrift« entspricht, »wie sie schon im Rahmen der Quellentheorie rekonstruiert wurde« (21). Die zweite priesterliche Bearbeitung PB2 hat dagegen gesetzgeberische Interessen und bringt vor allem das Heiligkeitsgesetz ein, aber auch Ex 12,14–17.43–51. Die dritte Schicht ist nach A. eine »spät-deuteronomistische Redaktion« mit dem Sigel »D« und entspricht weitgehend der von Blum postulierten »KD«, nur mit dem wichtigen Unterschied, dass diese Texte hier nicht als vorpriesterlich gelten (23). Es folgen dann noch die »dritte priesterliche Bearbeitung« (PB 3), die Mal’ak-Redaktion, die Hexateuchredaktion (HerR) sowie zwei »spätpriesterliche Pentateuchredaktionen« (PB4 und PB5) (23–25).
Signifikant ist die Aufgabe des Quellenmodells von durchlaufenden Erzählfäden zugunsten eines Blockmodells, wonach vergleichsweise kurze Kompositionen sukzessive zusammengefügt wurden. Dieses Modell gewinnt in letzter Zeit zunehmend Anhängerschaft, wobei freilich die Rekonstruktion der ehemals eigenständigen Kurzkompositionen und die Abfolge ihrer Verkettung unterschiedlich vorgestellt werden. A. liefert mit seinem Vorschlag, die Grenzen der ältesten Komposition im Binnenraum des Exodusbuches zu suchen, einen bemerkenswerten Diskussionsbeitrag. Ob er freilich mit seiner Entscheidung, Ex 34,8–10.28–32* als Abschluss der KEX zu interpretieren, Zustimmung finden wird, bleibt abzuwarten. Der Rezensent ist angesichts der zahlreichen priesterlichen Elemente in dem Passus eher skeptisch.
Schwer fällt auch die Bewertung der von A. rekonstruierten Vorlagen der Exoduskomposition. So sei das letzte identifizierbare Stück der »Politischen Moseerzählung« in 4,19.20a oder 4,24–26 zu finden, das letzte der »Berufungserzählung« in 3,17*. A. konzediert selbst, dass es sich dabei um Fragmente handelt (64 und 88). In seinem Modell haben diese teilweise bis in das 10. Jh. zurückdatierten Kurzerzählungen freilich die Funktion, die Brücke zwischen dem Exodusereignis und der Abfassung der K EX herzustellen (34).
Die fortlaufende Kommentierung wird abschnittsweise durch eine eigene Übersetzung eingeleitet, die nach Schichten gestaffelt dargestellt wird. Darauf folgt jeweils die synchrone Auslegung des Endtextes und nachfolgend die diachrone Analyse, so dass beide Perspektiven zu ihrem Recht kommen. Die abschließende Einzelauslegung kleinerer Abschnitte erfolgt diachron differenziert und versucht insbesondere, die jeweiligen Motive auszumachen, die zur Abfassung bzw. zur Fortschreibung geführt haben.
Eine Eigenart dieser Kommentierung ist darin zu sehen, dass A. den Text immer wieder assoziativ paraphrasiert. So etwa in der Auslegung von Ex 3,1–6: »Doch Mose sah in der einsamen fremden Gegend, in die er mit seiner Herde gelangt war, nur einen auffälligen Dornbusch […] Dass dieser Dornbusch nicht verbrannte, war etwas ganz Besonderes, was Mose aber vielleicht doch übersehen oder links liegen gelassen hätte, wenn er in Begleitung oder zu sehr mit irdischen Dingen beschäftigt gewesen wäre. Doch allein in der Einsamkeit der Bergwüste war er aufgeschlossen für Wunder. Er entschloss sich, vom Weg, den seine Herde zog, abzuweichen …« (78).
Wie mögen solche Paraphrasen von der Leserschaft des Kommentars aufgenommen werden? Als Hilfe zur besseren Imagination der Szene? Als Rekonstruktion des Textcharakters, wie er dem antiken Autor wohl vorgeschwebt hat? Oder als Rekonstruktion der Gestimmtheit des historischen Mose? A. legt seine Leser in dieser Hinsicht nicht fest.
Diese Methode der Einfühlung wendet A. auch an, wenn er die Arbeitsweise der Kompositoren beschreibt. So benennt er immer wieder deren impliziten Beweggründe oder imaginiert ihre Vorgehensweise. Dadurch entsteht ein transparentes Bild der postulierten Abfassungsvorgänge, so dass sich die Leser eine ggf. auch ablehnende Meinung dazu bilden können. So etwa in der Darstellung der Abfassungsumstände von Ex 6,2 ff., die man sich so vorzustellen hat, »dass der Bearbeiter diese [Textpassagen] in einem ersten Schritt auf einem Beiblatt schriftlich konzipierte, bevor er sie in einem zweiten Schritt an die Stellen der Schriftrolle, für die sie gedacht waren, einfügte« (122). Hier wird anschaulich, was mit dem Begriff der »Komposition« im Unterschied zu »Redaktion« ge­meint ist.
Diese Hochschätzung der historischen Imagination, die den Kommentar durchgehend prägt, birgt einerseits die Gefahr, mehr sagen zu wollen, als der Text hergibt, bringt aber auf der anderen Seite den Gewinn, dass sowohl die Textakteure wie auch die Autoren lebendig vor Augen treten. Dadurch kann einem größeren Leserkreis, auf den die Zürcher Bibelkommentare ja abzielen, verständlich werden, was in den vergangenen Jahrzehnten in komplexen Studien nicht zuletzt von A. ausgearbeitet wurde.