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Ausgabe:

September/2013

Spalte:

934–936

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Crüsemann, Frank, Hungar, Kristian, Janssen, Claudia, Kessler, Rainer, u. Luise Schottroff [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2009. XII, 775 S. m. Abb. Geb. EUR 68,00. ISBN 978-3-579-08021-5.

Rezensent:

Bernd Janowski

Das Sozialgeschichtliche Wörterbuch zur Bibel (im Folgenden: SWB), das hier aufgrund eines Versehens verspätet angezeigt wird, stellt mit seinen über 200 Artikeln von 75 Autoren und Autorinnen ein willkommenes Arbeitsinstrument zur Erschließung der biblischen Lebenswelt(en) dar. Wie bei einem Wörterbuch üblich sind die Artikel zwar alphabetisch (von »Abgaben, religiöse« bis »Zeuge, Zeugin«) angeordnet, sie wurden laut Vorwort der Herausgeber­innen und Herausgeber aber »in sachlichen Gruppen mit einem Hauptartikel (z.B. Familie) sowie mehreren Stichworten (z.B. Mut­ter, Verwandtschaft, Fruchtbarkeit/Unfruchtbarkeit) und Kurzinformationen (z. B. Kinder, Vater, Waise, Witwe) vergeben und bearbeitet« (VII). Leider hat sich dies nicht ausreichend im Lexikonteil des SWB niedergeschlagen, d. h. es wird im Unterartikel »Mutter« oder im Stichwortartikel »Kinder« der Bezug zum Hauptartikel »Familie« nicht oder nur implizit (durch Querverweis) hergestellt, so dass der Benutzer die innere Systematik des SWB erraten bzw. erschließen muss. Das hätte man durch eine Vorabbeschreibung der Anlage des Wörterbuchs benutzerfreundlicher lösen können und auch müssen. Leider fehlt auch eine Liste der Stichwörter und ihrer Autoren und Autorinnen, die über den Um­fang und das Themenspektrum des Wörterbuchs informiert.
Auch sonst ergeben sich aufgrund des Vorworts (VII–VIII) und des Editorials (IX–XII) Rückfragen. Es ist natürlich erfreulich, dass sich Fachleute für das Alte und das Neue Testament zusammengetan und einen Artikel gemeinsam bearbeitet haben. Es ist dies aber keine »Arbeitsweise, die im deutschen akademischen Betrieb kaum praktiziert wird« (VII). Kennen die Herausgebenden denn nicht das Neue Bibellexikon (1995–2001) oder das Handbuch der Grundbegriffe des Alten und Neuen Testaments (2006/22009)? Für beide Lexika war die besagte Zusammenarbeit eine conditio sine qua non.
Etwas ratlos aber macht das Editorial, das in drei Punkten die Absicht des SWB umreißt. Zunächst geht es den Herausgebenden darum, die Lebensverhältnisse der Menschen der biblischen Zei-t(en) zu erklären, die sozialen, ökonomischen, politischen und institutionellen Aspekte ihres Alltags zu beleuchten sowie die symbolischen Bedeutungen zu erfassen, die in jenen Alltagserfahrungen und deren sprachlichem Ausdruck gründen. Dieser Ansatz ist sachgerecht, im Einzelnen aber erklärungsbedürftig. Was z. B. wird unter »Lebenswelt« und was unter »symbolischer Bedeutung« verstanden? Hier wären Hinweise auf die entsprechenden Arbeiten von Ernst Cassirer, Susanne K. Langer, Clifford Geertz u. a., die in den Nachbarwissenschaften intensiv diskutiert werden, nötig und hilfreich gewesen. Auch der Begriff der »Lebenswelt« ist nicht selbstevident, sondern er­klärungsbedürftig, s. dazu B. Waldenfels, Art. Lebenswelt, in: P. Kolmer/A. G. Wildfeuer (Hrsg.), Neues Handbuch philosophischer Grund­begriffe 2, Freiburg 2011, 1418–1429. Sodann – und das unterscheidet ein sozialgeschichtliches Wörterbuch von einem Lexikon der biblischen Archäologie (wie etwa dem Biblischen Reallexikon 21997) – verfolgt das SWB das Ziel, die Einbettung des Einzelnen, der Gegenstände der materiellen Kultur Paläs­tinas/Israels sowie der sozialen, ökonomischen, politischen und institutionellen Gegebenheiten »in größere sachliche Zusammenhänge« (XI) wie z.B. der Landwirtschaft zu thematisieren. Als Beispiel wählen die Herausgebenden den Pflug: »Nicht wie beispielsweise ein Pflug aussah allein, sondern wie mit ihm gearbeitet wurde, vor allem, wer mit ihm gearbeitet hat oder arbeiten musste, interessiert« (ebd.). Natürlich – aber auch hier gibt es eine bedeu­-tende Wissenschaftstradition, an die man hätte anknüpfen können und sollen, nämlich die sozial- und mentalitätsgeschichtliche Schule der Annales von M. Bloch, L. Febvre, F. Braudel u. a., wie sie etwa in den Sammelbänden von C. Honegger, Schrift und Materie der Geschichte (edition suhrkamp 814), 1977, oder M. Middell/St. Sammler (Hrsg.), Alles Gewordene hat Geschichte, 1994, seit Langem gut zugänglich ist. Im Übrigen hätte es dem Unternehmen aus Gründen der Kontextualisierung des eigenen Anliegens gut angestanden, die Forschungsgeschichte der »Sozialgeschichte Israels« anhand der Werke von A. Causse, M. Weber, A. Alt u. a. wenigstens zu skizzieren, s. dazu etwa B. Lang, Art. Sozialgeschichte, NBL 3 (2001), 639–651.
Stattdessen – das ist der dritte Punkt des Editorials – geben die Herausgeberinnen und Herausgeber bekannt, aus welcher Perspektive sie die sozialen Begriffe und Institutionen des Alten Testaments/des alten Israel darstellen wollen: aus befreiungstheolo­gischer, feministischer und jüdisch-christlicher Sicht. Der tiefere Sinn dieser etwas vollmundigen Programmatik (X–XII) hat sich dem Re­zensenten nicht erschlossen, weil sie mit den Punkten 1 und 2 des Editorials nur sehr locker in Verbindung steht und der Aufgabe eines sozialgeschichtlichen Wörterbuchs kaum gerecht wird. Für sachlich unrichtig und hermeneutisch unterbestimmt halte ich dabei die Formulierung: »Das Neue Testament erweist sich […] als ein in praktisch jeder Hinsicht jüdisches Buch, das sich durchgängig positiv auf die ›Schrift‹ bzw. ›die Schriften‹ bezieht« (XII). Während man den Relativsatz unterschreiben kann, sollte man sich bei dem Hauptsatz auf die Formulierung »Das Neue Testament erweist sich vielmehr als ein Buch, das …« beschränken. Alles andere ist eine Verzerrung der komplexen historischen Probleme.
Und dennoch: Das SWB ist, wenn es sich in seinen gut 200 Artikeln seiner eigentlichen Aufgabe zuwendet und die ideologischen Prämissen des Editorials auf sich beruhen lässt, von großem Nutzen – auch wenn es hier und da Überschneidungen und Redundanzen gibt (wie bei den sachlich gelungenen Artikeln »Wirtschaftsrecht« und »Wirtschaftssystem«). Natürlich sind nicht alle Artikel von derselben Qualität (das gilt etwa für den Artikel »Tod«, der nicht auf dem Stand der Forschung ist), aber das sind sie bei anderen Lexika auch nicht. Auch lässt sich darüber streiten, ob wirklich alle Artikel in ein sozialgeschichtliches Wörterbuch gehören. Wer kommt etwa, weil das Editorial darauf keinen erklärenden Hinweis gibt, auf die Idee, einen Artikel »Philosophische Strömungen« (dieser Artikel hängt kontextlos in der Luft) oder »Kanon« im SWB zu suchen? Dass der Artikel »Kanon« des SWB dennoch sozialgeschichtliche Aspekte enthält, ist erfreulich und zu begrüßen, hätte durch die Einbeziehung dezidiert literatursoziologischer Aspekte aber deutlicher herausgearbeitet werden sollen. Wie die Nachbardisziplinen mit dieser Thematik umgehen, kann man sich anhand von N. Werber, Art. Soziologie, in: R. Borgards (Hrsg.), Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2013, 152–160, vor Augen führen. Das zweite erfreuliche Beispiel betrifft die Artikel »Naturerfahrung«, »Weltbild« und »Wüste«, die man vielleicht nicht direkt erwartet, die aber die Le­bensverhältnisse der Menschen im alten Israel in besonderer Weise beleuchten und das SWB eindeutig bereichern.
Positiv hervorzuheben sind schließlich die Gliederung der Artikel, die Verwendung von Tabellen, die Berücksichtigung von Bildquellen (leider nicht immer von ansprechender Qualität, z. B. 69–71.189.638 u. a.) und die Literaturhinweise, die in der Regel auf dem Stand der Forschung sind. Ein (zu) ausführliches Stellenregister (693–761!) sowie ein Sachregister (762–770) beschließen das SWB, das – trotz aller Kritik – ganz gewiss seine guten Dienste tun wird.