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Ausgabe:

September/2013

Spalte:

931–933

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Assel, Heinrich, Beyerle, Stefan, u. Christfried Böttrich [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Beyond Biblical Theologies.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2012. X, 656 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 295. Lw. EUR 139,00. ISBN 978-3-16-151001-4.

Rezensent:

Marius Reiser

Das Unternehmen »Biblische Theologie« ist ein Kind der Aufklärung. Es wurde geboren aus einer doppelten Unzufriedenheit: der Unzufriedenheit mit den Dogmen der Orthodoxie und der Unzufriedenheit mit der Bibel selbst. Man wollte sowohl die christlichen Dogmen als auch die Aussagen der Bibel, die man selbstverständlich nicht für inspiriert hielt, nur in strenger Auswahl nach den Diktaten der Vernunft gelten lassen. Faktisch waren die neuen Kritierien die jeweils anerkannten Dogmen der Aufklärung bzw. des Zeitgeistes. Das konnte nur zu einem Tohuwabohu führen. Dieses Tohuwabohu wird in dem angezeigten Band ausgezeichnet re­präsentiert.
Der programmatische Beitrag von S. Beyerle beginnt mit der Feststellung: »Die aktuelle Diskussion um ›Biblische Theologie‹ ist geprägt von höchst differenten Auffassungen ihres Gegenstands und zugleich einer überbordenden Aporetik hinsichtlich der selbst gesteckten Ziele« (19). Das zeigt er anschließend näher auf, indem er nicht zuletzt die Suche nach einer »Mitte des Alten Testaments« problematisiert. Am Schluss erklärt er immerhin: »Bei aller Kritik scheint mir der traditionsgeschichtliche Ansatz des ›Tübinger Mo­dells‹ momentan derjenige zu sein, der der Sache einer biblischen Theologie am ehesten entspricht« (51). Der Darstellung und Verteidigung dieses Modells, das vor allem mit dem Namen H. Geses verbunden ist, gilt der Beitrag von U. Mittmann. Auch J. Barton (243–259) sieht in Geses Ansatz das einzige Mittel, auf kritischem Weg zu einer einheitlichen Deutung der zweiteiligen christlichen Bibel zu gelangen. Er bemerkt im Übrigen die zentrale Rolle Karl Barths für jede Form von biblischer Theologie und theologischer Exegese, besonders in Nordamerika. Ein Blick in das Register bestätigt diesen Sachverhalt auch für den angezeigten Band. Theologische Exegese und biblische Theologie sind nun einmal dogmatisch-systematische Unternehmungen. G. Pfleiderer meint sogar, dass zu­mindest Letztere mit historischer Kritik unvereinbar sei. Er schreibt: »Je mehr in den Entwürfen einer Biblischen Theologie die im klassischen Original, also bei Karl Barth, einseitig verdrängte historische Kritik wieder zugelassen wird, desto problematischer scheinen sich die Lösungs- und Vermittlungsversuche auszunehmen« (179). Zu diesem Ergebnis kommt auch J. J. Collins im Hinblick auf B. Childs. Sein »canonical approach amounts to little more than a reverential attitude to the text and a refusal to acknowledge its problematic character« (234). Am Ende meint er gar, die Vertreter einer biblischen Theologie sähen sich immer wieder gezwungen, »to lie for God« (241). Das ist doch wohl überzogen. Eine kirchliche Theologie kann m. E. historische Kritik an der Heiligen Schrift in vollem Umfang und ohne jede Unredlichkeit einbeziehen. Der Versuch freilich, mit kritischen Mitteln eine neue Regula fidei zu finden, kann nur scheitern. In dem langen Beitrag von H. Assel über »das Fiktive und das Imaginäre in Joh 1 als Aufgabe der Inkarnationschristologie« gelangte der Rezensent allerdings nur bis zu der Bemerkung: »Man muss Joh 12,27–30 mit Ernst Käsemanns Wut des Nicht-Verstehen-Wollens lesen …« (100), da ergriff ihn ebendiese, und er las nicht weiter.
Der erste Beitrag des Bandes, den R. Smend beigesteuert hat, behandelt J. Wellhausen. Am Ende meint der Autor: »Von Biblischer Theologie dürfte er mehr im kleinen Finger als viele berufsmäßige Theologen in ihrer ganzen Hand gehabt haben.« (18) Diese Bemerkung ist ein Beispiel dafür, dass »Biblische Theologie« heute gewöhnlich mit theologischer Exegese identifiziert wird, die na-türlich auch auf religionsphilosophischer Basis betrieben werden kann. Dagegen meint F. Prostmeier in einem Beitrag über »Schrift und christliche Theologie im zweiten Jahrhundert«: »Mit der ge­schichtlichen Relativität dieser frühen Schriftauslegung [im Bar­-nabasbrief und bei Theophilos von Antiochia] wird zugleich evident, dass eine christliche Biblische Theologie stets eine kirchliche Theo­logie ist.« (605) Das in der Aufklärungszeit entstandene Unternehmen strebte allerdings eine Neudefinition dessen an, was Kirche ist, und suchte nach einer Regula fidei, die endlich schrift- und vernunftgemäß sein sollte. Das war, wie sich inzwischen herausgestellt hat, ein aussichtsloses Unternehmen.
Theologische Exegese ist eine gute Sache, wenn sie mit guter Theologie betrieben wird. Das ist m. E. etwa der Fall bei der »Theologie des Neuen Testaments« von U. Wilckens. Wer freilich die kirchliche Theologie des Autors nicht teilt, wird auch mit seiner Deutung des Neuen Testaments nicht zufrieden sein. Auch in dem angezeigten Band finden sich mehrere ausgezeichnete Beiträge zur theologischen Exegese des Alten wie des Neuen Testaments. G. Hallonsten schreibt über Joseph Ratzingers/Benedikts XVI. »Jesus von Nazareth« und meint: »Die Schriftauslegung Ratzingers, so scheint es mir, geht eher von der Gesamtschau des biblischen Zeugnisses aus, um die historisch-kritischen Einsichten darin möglichst gut zu integrieren. Nicht umgekehrt.« (147) Ob er den Sachverhalt mit dieser Alternative richtig erfasst hat? Er fragt sich, warum Ratzinger, wenn er vom historischen Jesus spricht, »historisch« in Anführungszeichen setzt und die Worte »im eigentlichen Sinn« hinzufügt (147 f.). Der Autor hätte daraufhin nur das erste Kapitel von A. Schweitzers »Geschichte der Leben-Jesu-Forschung« zu lesen brauchen. Dort wird »historischer Jesus« per definitionem als jener Jesus verstanden, der nur Mensch ist und von dem das Dogma von Chalcedon gerade nicht gilt. Diesen dogmatischen Sprachgebrauch lehnt Ratzinger zu Recht ab.
Von den lesenswerten Beiträgen, die jetzt noch nicht genannt wurden, sei nur noch einer herausgegriffen, dessen Thema in diesem Rahmen zunächst überraschen mag: T. Bokedal über die Nomina Sacra (263–295). Er informiert ausgezeichnet über die Forschungsgeschichte und den Forschungsstand. Er zeigt, wie diese Form der Ab­kürzung zum Zweck der Hervorhebung in den christlichen Skriptorien mit dem Ende des 1. oder Anfang des 2. Jh.s mit vier oder fünf Wörtern begann: Jesus, Christus, Gott, Kyrios und Pneuma, also den entscheidenden christologischen Bezeichnungen. In seinem Schluss­abschnitt zeigt der Autor an drei Beispielen, wie diese Tradition aufgegriffen wurde bei Luther, Newman und Bonhoeffer. Am Schluss stellt er die Frage, ob die fehlende Auszeichnung der Nomina Sacra in den gedruckten Bibeln von heute einen Unterschied der Lektüreweise anzeigt. M. E. müsste die ehrliche Antwort »Ja« lauten. Wer liest die Bibel heute noch als Heilige Schrift?