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Ausgabe:

September/2013

Spalte:

926–928

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Dierken, Jörg

Titel/Untertitel:

Fortschritte in der Geschichte der Religion? Aneignung einer Denkfigur der Aufklärung.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2012. 244 S. = Forum Theologische Literaturzeitung, 24. Kart. EUR 19,80. ISBN 978-3-374-02987-7.

Rezensent:

Markus Buntfuß

Das auf den ersten Blick als unscheinbare Spezialuntersuchung daherkommende Buch des Hallenser Systematikers und Präsidenten der Schleiermacher-Gesellschaft Jörg Dierken entpuppt sich bei der Lektüre als eine systematische Grundsatzreflexion auf zentrale Probleme gegenwärtiger Religionstheorie in religionsübergreifender Perspektive und darf als umfassender Prospekt zu einer protestantischen Religionstheologie der Gegenwart in der Tradition eines kritisch-modernen Protestantismus gelten. Das Themenspektrum des Buches beschränkt sich infolgedessen auch nicht auf eine begriffs- oder ideengeschichtliche Darstellung des Fortschrittsmotivs in der Religionsgeschichte, sondern nutzt die Bewegungsmetapher des Fortschreitens als heuristischen Leitfaden, um die spezifische Situation der Religion bzw. Religionen und einer ihrer Phänomenalität entsprechenden theoretischen Reflexion in der Moderne systematisch zu klären.
In einem ersten Kapitel setzt sich D. grundsätzlich mit den spezifisch modernen Konzepten von »Geschichte« und »Religion« auseinander und traktiert die Frage, ob in Bezug auf religiöse Phänomene von Fortschritt überhaupt die Rede sein könne. Dazu wird Religion als komplexe Vollzugsgestalt menschlicher Subjektivität dechiffriert – ohne Reduzierung auf die kausale Hervorbringung durch religiöse Akteure – und die Bewegungsmetapher des Fortschritts als kritische Kategorie konzeptualisiert – nicht ohne Be­zug auf die da­mit verbundenen Ambivalenzen. Trotz be­grün­deter Vorbehalte, Religionen am Maßstab des Fortschritts zu messen, kann D. zeigen, dass der Gehalt dieses Begriffs für die theoretische Beschreibung religiöser Phänomene in ihrer ge­schichtlichen Entwicklung unverzichtbar ist, weil er der elementaren Unterscheidung zwischen erwünschten und unerwünschten Mo­menten religiöser Praxis ebenso zugrunde liegt wie jedem zielorientierten Handeln: »Mit der Performanz von subjektiv und so­zial gelebter Religion sind Zielorientierungen verbunden, wie sie auch das subjektive Bewegungsschema des ›Fortschreitens‹ kennt.« (32)
Im zweiten Kapitel zeichnet D. die Hauptstationen religionsgeschichtlicher Kategorienbildung seit der Aufklärung unter der leitenden Fragestellung ihrer Affinität zur Fortschrittsfigur nach. Vom Deismus Herbert von Cherburys über die theologischen Aufklärer (Lessing, Herder), die Klassiker protestantischer Religionstheologie (Kant, Schleiermacher, Hegel) sowie die Begründer von Religionssoziologie, -psychologie und -phänomenologie (Troeltsch, M. Weber, R. Otto, G. van der Leeuw) bis hin zu prominenten Positionen der Gegenwart, wie den Vertretern einer pluralistischen Theologie der Religionen, werden einschlägige Entwürfe in hoch verdichteter Weise problemorientiert rekonstruiert, was dem Leser einiges abverlangt und nicht ohne elementare Vorkenntnisse der jeweiligen Ansätze verständlich ist. Das Fazit dieser religionstheoriegeschichtlichen Bestandsaufnahme fällt auf den ersten Blick ernüchternd aus. Zumindest eine schlichte Fortschrittsvorstellung scheint sich als unpassend zur Beschreibung insbesondere der modernen Pluralisierung des Religiösen, seiner ideologischen Verdrängung und/oder kulturellen Separierung bzw. Diffundierung zu erweisen. Trotzdem wäre es D. zufolge naiv, das Motiv des Fortschritts in Religionsdingen für erledigt zu halten. »Unterschwellig überlebt der Fortschritt seine Auskehr aus dem religiösen Kategorienarsenal.« (142) Zwar nicht in dem Sinne, dass die Fortschrittsfigur zur Beschreibung der Religionsgeschichte im Sinne einer Perfektionierung von Religion als Religion geeignet sei, aber durchaus so, dass mit ihr Bewertungen von Religion als kulturelle Realität im Verhältnis zu anderen kulturellen Formen er­möglicht werden.
Das dritte Kapitel unternimmt folgerichtig den angesichts der Ausdifferenziertheit religionswissenschaftlicher Einzelforschungen couragierten Versuch zu einer Religionstypologie zwischen Differenzhermeneutik und vergleichend-bewertender Urteilskraft. D. extrahiert markante Leitmotive universaler Religionskulturen, die mit dem Anspruch auf Universalität einhergehen. Dazu zählt er Judentum, Christentum, Islam, Hinduismus, Bud­dhis­mus und chinesische Religionen. Dieses Kapitel stellt sicher eine methodische Gratwanderung zwischen typologisch-begrifflicher Abstraktion und geschichtlich-religiöser Konkretion dar, die man– je nach wissenschaftlichem Standpunkt – als mehr oder we­niger überzeugend bezeichnen wird. Unstrittig ist jedenfalls der Orientierungsgewinn eines solchen Versuchs, der die universalen Religionskulturen als individuelle Totalitäten begreift und sie als religiöse Systeme der Heilssuche und Heilsgewissheit zum allgemeinen Wirklichkeitsverständnis ins Verhältnis setzt, wobei sie eine wechselvolle Geschichte der Anpassung und des Widerstands, der Erneuerungen, Rückbesinnungen und Umformungen durchlaufen. Auch, wenn dabei erneut die ambivalenten Aspekte des Fortschrittsgedankens hervortreten, büßt dieser keineswegs seine Un­hintergehbarkeit ein, sondern »gewinnt an Komplexität, wenn mit ihm auch die Negation von Planung des Besseren verbunden wird« (220). Im Nachdenken über Religion und Religionen, die in ihrer Unterschiedlichkeit erkannt und anerkannt werden, sowie im Blick auf die Religionsgeschichte, die sich keineswegs als permanente Verbesserung schreiben lässt, macht das Denken über den Fortschritt somit selbst Fortschritte.
Im abschließenden vierten Kapitel verortet D. den religiösen Fortschrittsdiskurs der Gegenwart zwischen Synkretismus und Säkularisierung. Im Hinblick auf ihr eigenes Selbstverständnis und die religiöse »Innenpolitik« bemesse sich die Fortschrittlichkeit gegenwärtiger Religionskulturen unter anderem daran, in­wie­weit sie dazu bereit sind, die ideologische Vorstellung eigener Reinheit und Originalität aufzugeben zugunsten der Einsicht in ihren grundsätzlich synkretistischen Charakter. Entsprechend sei die Fortschrittlichkeit auf dem Feld der religiösen »Außenpolitik« daran zu bemessen, inwieweit gegenwärtige Religionskulturen dazu bereit sind, sich selbst im Prozess der Säkularisierung auch in radikal gewandelter Gestalt als individuelle Totalitäten festzuhalten und zu behaupten.
D.s Grundsatzreflexion auf zentrale Probleme gegenwärtiger Religionstheorie eignet sich nicht nur, um den State of the Art einer problemgeschichtlich und systematisch auf höchstem Niveau arbeitenden wissenschaftlich protestantischen Theologie in religionsübergreifender Perspektive kennenzulernen, sondern vor allem auch, um mit Studierenden der Theologie und Religionswissenschaften exemplarisch zentrale Problemstellungen gegenwärtiger religionstheologischer Theoriebildung zu erarbeiten.