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Ausgabe:

September/2013

Spalte:

924–926

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Cliteur, Paul

Titel/Untertitel:

Het monotheïstisch dilemma of De theologie van het terrorisme.

Verlag:

Amsterdam u. a.: Uitgeverij De Arbeiderspers 2010. 410 S. Kart. EUR 21,95. ISBN 978-90-295-7354-2.

Rezensent:

Uwe Arnhold

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Cliteur, Paul: De filosofie van mensenrechten. 2. Aufl. Nijmegen: Ars Aequi Libri 1999. 166 S. Kart. ISBN 90-6916-343-8.
Cliteur, Paul: Moreel Esperanto. Naar een autonome ethiek. 3. Aufl. Amsterdam u. a.: Uitgeverij De Arbeiderspers 2007. 428 S. Kart. EUR 22,50. ISBN 978-90-295-6321.
Verhofstadt, Dirk: In gesprek met Paul Cliteur. Een zoektocht naar harmonie. Antwerpen u. a.: Houtekiet 2012. 470 S. Kart. EUR 24,50. ISBN 978-90-8924-210-5.


Evangelische Ethik ist religiöse Ethik. Als solche behindere sie das Miteinander im demokratischen Rechtsstaat. Das ist die Botschaft des 1955 geborenen niederländischen Rechtsphilosophen P. B. (Paul) Cliteur, der seit 2004 den Lehrstuhl für die Enzyklopädie des Rechts an der Universität Leiden innehat. Was ihm Bedeutung verleiht, ist sein Wirken in den niederländischen Medien und der Einfluss, den er mit seinen Büchern auf ein breites Publikum ausübt. Was ihn beschäftigt, ist die Frage, wie sich ein freiheitliches Gemeinwesen gegenüber religiösen Absolutheitsansprüchen zu verhalten hat.
C.s »Lehrbuch« für den Jura-Unterricht De filosofie van mensenrechten zufolge sind die Menschenrechte so, wie sie in der Universellen Erklärung der Menschenrechte von 1948 stehen, konstitutiv für die moderne Kultur. Sie bilden ihr moralisches Esperanto. Die Erklärung von 1948 könne diese Rolle erfüllen, weil sie auf jede religiöse Formulierung verzichte. Ihr Ausgangspunkt sei nicht, dass »all men are created equal«, sondern dass Menschen inhärent gleich sind (91). Menschenrechte bedürften keiner religiösen Be­gründung. Im Gegenteil, religiöse Begründungen gefährdeten ge­radezu ihre universelle Geltung. Nur wenn allen ein neutrales Esperanto zur Verfügung stehe, könnten Menschen mit unterschiedlichem religiösem und kulturellem Hintergrund friedlich zusammenleben. In seinen nachfolgenden Büchern führt er diese These weiter aus.
In Moreel Esperanto. Naar een autonome ethiek behauptet C., dass sich die verschiedenen ethischen Theorien auf zwei Grundmus­ter zurückführen ließen: die autonome Moral, deren Basis die Menschenrechtserklärung von 1948 sei, und die religiöse Moral, die er als »göttliche Befehlstheorie« bezeichnet. Letztere bilde »eine perfekte und einflussreiche Legitimation für den heutigen religiösen Terrorismus«. Religiöse Terroristen beriefen sich bei ihren groben Ge­waltverbrechen auf religiöse Eingebungen (die mystische Variante der göttlichen Befehlstheorie), heilige Texte (die protestantisch-islamische Variante der göttlichen Befehlstheorie) und die Befehle von religiösen Führern – die »katholische Variante der göttlichen Be­fehlstheorie« (219). Die Personifizierung dieses religiösen Terroris­mus sei der Priester Pinhas, der einen Israeliten ermordete, weil er sich mit einer moabitische Frau einließ. Zwar bestehe die Bibel nicht nur aus solchen Erzählungen, doch selbst die Bergpredigt sei problematisch, weil auch in ihr das gebotene Handeln mit dem Willen Gottes begründet wird. Kern des Problems ist die in allen drei monotheistischen Religionen vorhandene metaethische Theorie und nicht deren Konkretisierung, die sowohl negativ (Pinhas) als auch positiv (Bergpredigt) sein kann. C. stellt der göttlichen Befehlstheorie die autonome Ethik gegenüber. Autonom bedeute dabei: unabhängig von Gott und Religion. Auf zwei verschiedenen Wegen kommt der Niederländer zu dem Ergebnis, dass die Religion zu der Frage, was gut ist und was schlecht, nichts beizutragen habe. So­wohl via Utilismus und Epikurismus als auch via Kants katego­rischen Imperativ versucht er, die Souveränität der Ethik über die Religion zu begründen. Obwohl auch die autonome Ethik »Schattenseiten« habe, seien diese nichts gegen die Probleme der theonom begründeten Ethik (289).
In Het monotheïstisch dilemma of De theologie van het terrorisme beschäftigt sich C. ausführlich mit dem religiösen Terrorismus. Diese Erscheinung ist C. zufolge nicht abusus, sondern usus der Religion. Drei Aspekte machen dies ihm zufolge deutlich: 1. Reli­-giöser Terrorismus ist religiös motiviert in dem Sinne, dass der Gewalttäter durch religiöse Überzeugungen zu seiner Tat stimuliert wird. 2. Er wird religiös gerechtfertigt in dem Sinne, dass man sich auf religiöse Argumente beruft, um das eigene Tun zu rechtfertigen. 3. Er ist auf den Schutz der Religion gerichtet in dem Sinne, dass versucht wird, eine bestimmte Interpretation des Glaubens mit gewalttätigen Mitteln zu erzwingen (103). Allen re­ligiösen Terroristen ist gemeinsam, dass sie sich moralischer Heteronomie unterordnen: Das Gute ist gut, weil Gott es vorschreibt. Das Böse ist böse, weil Gott es verbietet. Eine andere Legitimation der Moral als durch den göttlichen Willen ist nicht existent (105). Dies führt zu dem, was C. »duale Bürgerschaft« nennt. Die staatliche Autorität existiert für den religiösen Terroristen nicht. »Sein Reich ist nicht von dieser Welt.« (108) Natürlich versteht die große Mehrzahl der Gläubigen ihre Glaubensdokumente nicht als Aufruf zur Gewalt. Gleichwohl kritisiert C. die gemäßigten Gläubigen, wie sie s. E. »an den schwierigen Texten vorbei lesen« (154). Zu diesen schwierigen Texten gehören diejenigen Erzählungen, in denen sich Gott durch eine »enorme Abneigung gegen religiöse Freiheit und moralische Autonomie« (ebd.) auszeichnet. Vom Gott aller drei monotheistischen Religionen gelte: 1. Er wendet sich scharf gegen die Religionsfreiheit im modernen Sinn des Wortes, das heißt: gegen die Freiheit, Gott anzunehmen oder abzulehnen. 2. Er stellt denjenigen, die sich durch alternative religiöse Auffassungen un­terscheiden, schwere Strafen in Aussicht. 3. Diese Strafen werden exekutiert durch Menschen, die sich als die wahren Gläubigen verstehen und die wir gegenwärtig als religiöse Terroristen bezeichnen würden (162 f.).
In seinem als Interview gestalteten jüngsten Buch Een zoektocht naar harmonie, äußert sich C. im Stil eines Leitartiklers. So behauptet er sinngemäß: Ethik sei ein wichtiges und schwieriges Fach, aber Theologen, auch der bedeutendste Theologe, der in Rom als Oberhaupt der katholischen Kirche sitze, seien in ethischer Hinsicht häufig Amateure (34). Die Grundrichtung seiner Argumentation lautet in etwa: Die europäische Kultur habe zwei Quellen: das jüdisch-christliche und das griechisch-römische Erbe. Beide be­fänden sich aber in keinem harmonischen Verhältnis zueinander. Die jüdisch-christliche Tradition sei theonom, die griechisch-römische autonom. Der jüdisch-christliche Teil sei problematisch, weshalb wir gut daran täten, uns auf die Quellen unserer Kultur zurückzubesinnen und dabei dem griechisch-römischen Erbe mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Unser Zusammenleben funktioniere nur dann, wenn über bestimmte Grundregeln ein Konsens bestehe, und diese Regeln seien, allen möglichen Einwendungen von Kulturrelativisten zum Trotz, in unserer westlichen Kultur verfasst. Und die Gläubigen müssten sich dem unterwerfen, was C. die »universelle säkulare Moral« nennt (143).
Deutsche Leser werden ihre Erfahrungen mit den beiden Volkskirchen kaum mit C.s Beschreibung der Religion zusammenbringen können. In den Niederlanden existiert jedoch mit dem orthodoxen Calvinismus eine Strömung, die unter anderem das passive Frauenwahlrecht und die Sozialversicherungspflicht ablehnt. Die volkskirchliche Mitte hingegen ist in Auflösung begriffen. Die christdemokratische Partei CDA erreichte bei der letzten Parlamentswahl noch 8,5 % der Stimmen. Die traditionsreichen Theologischen Fakultäten in Leiden und Utrecht sind geschlossen. Der kirchliche Rundfunksender IKON wird demnächst eingestellt. Das ist der Hintergrund auf dem C. zu einem der Meinungsführer in Sachen Recht, Ethik und Religion werden könnte.