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Ausgabe:

Juli/August/2013

Spalte:

890–891

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Tamcke, Martin [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Orientalische Christen und Europa. Kulturbegegnung zwischen Interferenz, Partizipation und Antizipation.

Verlag:

Wiesbaden: O. Harrassowitz 2012. XII, 385 S. m. 1 Abb. u. 1 Tab. = Göttinger Orientforschungen. I. Reihe: Syriaca, 41. Kart. EUR 84,00. ISBN 978-3-447-06757-7.

Rezensent:

Uwe Gräbe

Es ist eine vom Verschwinden bedrohte – und in Teilen bereits verschwundene – Welt, von der dieser Sammelband zeugt. Auf eine Konferenz im Juni 2010 gehen die von dem Göttinger Ökumeniker Martin Tamcke zusammengestellten Beiträge zurück; zwei Jahre sind bis zu ihrer Veröffentlichung vergangen: zwei Jahre, in denen sich die arabische Welt von Grund auf verändert hat und nach denen auch die Zukunft der christlichen Gemeinschaften im Ori­ent mehr denn je in Frage steht.
Um Kulturbegegnungen der unterschiedlichsten Art geht es in den einzelnen Beiträgen: Kulturbegegnungen zwischen dem Ori­ent und Europa durch Reisende, Schriftsteller, Übersetzer, Missionare und Studenten. Immer wieder nehmen die orientalischen Christen dabei eine zentrale Stellung als Mittler und Vermittler zwischen den unterschiedlichen Welten ein, sind in den verschiedenen Kulturräumen zu Hause und werden doch oftmals hier wie dort als »Fremde« betrachtet.
Es wird jedoch in diesem Buch nicht nur über Kulturbegegnung geschrieben, sondern in den Personen der Autorinnen und Autoren findet selbst Kulturbegegnung statt. Viele von ihnen sind Grenzgänger: Menschen mit arabischen, armenischen und türkischen Namen, die in Westeuropa geboren oder zumindest zu Hause sind – ebenso wie Menschen mit westeuropäischen Namen, die lange im Orient gelebt und Wurzeln geschlagen haben. Erhellend sind hier die Kurzbiographien am Ende des Buches.
Grenzgänger sind oftmals besonders sensibel gegenüber Grenzverletzungen – auch und gerade dort, wo diese von Vertretern des eigenen Kulturraumes ausgehen und sich gegen Dritte richten. So ist es ein syrischer Christ (Najeeb G. Awad), der den Fortgang der von Kamal Salibi in den 1980er Jahren angestoßenen Debatte (»The Bible came from Arabia«) im arabischen Sprachraum aufzeigt und ihren ideologischen Hintergrund offenlegt: Da, wo nicht nur das Alte Testament, sondern schließlich selbst das Jesus-Geschehen historisch in den Bereich des heutigen Saudi Arabien verlagert wird, da ist dies weniger einer wissenschaftlichen Erkenntnis ge­schuldet als vielmehr den Vorgaben eines politischen »Arabismus« (sowie – dies zu ergänzen sei dem Rezensenten erlaubt – der stets mitschwingenden Tendenz, den christlichen Glauben seines Is­rael-Bezugs zu entleeren). Und umgekehrt ist es ein deutscher Theologe (Friedrich Erich Dobberahn), der mit großer philologischer Akribie eine Christianisierung der Muhammad-Inschriften des Jerusalemer Felsendoms durch christliche Koran-Exegeten in Deutschland (die sog. »Saarbrücker Schule«) als Absurdität zurück­weist. An diesen beiden Beispielen wird ganz deutlich: Eine echte Kulturbegegnung ist nur dort möglich, wo der Andere gerade in seiner Fremdheit respektiert und nicht vorschnell unter die jeweils eigenen Kategorien subsumiert wird.
Wo dieses Axiom beachtet wird, zeigt sich, dass Synchronizität nicht unbedingte Voraussetzung einer gelingenden Kulturbegegnung ist. Exemplarisch für diese Einsicht steht der Vergleich des armenischen Bibelübersetzers Mesrop Maschtotz (360–440) mit Martin Luther (durch Armenuhi Drost-Abgarjan): Hier werden ge­rade durch den diachronen Vergleich erstaunliche Parallelitäten in der Spiritualität der beiden Theologen deutlich, ohne die ihre jeweiligen Bibelübersetzungen wohl nicht denkbar wären.
Besonders »dicht« wird das Buch dort, wo die Stellung deutscher Zeitzeugen zum Völkermord an den Armeniern – noch einmal – einer eingehenden Untersuchung gewürdigt wird. Dies geschieht in Form sehr eindrücklicher Quellenstudien zum Disput zwischen Johannes Lepsius und Enver Pascha (durch Hermann Goltz †) ebenso wie zum handschriftlichen Original-Tagebuch und den öffentlichen Stellungnahmen eines Armin T. Wegner (Ersteres durch Martin Tamcke und Sven Grebenstein, Letzteres durch Tigran Sa­rukhanyan). Hier stößt die historische Analyse an die Grenzen des Menschlichen und oft auch Allzumenschlichen, und zuweilen erscheint ein Bild der Beteiligten, in welchem Aufrichtigkeit und Versagen geradezu fließend ineinander übergehen.
Mit seiner Einteilung in die Abschnitte »Rezeption – Mission – Exploration – Interaktion – Koexistenz« versucht der Sammelband die große Zahl der Beiträge (insgesamt 27!) einer sinnvollen Gliederung zuzuführen und die ungeheure Fülle des Materials somit ein wenig zu domestizieren. Nicht immer ist diese Einteilung ganz plausibel. Zur Straffung hätte durchaus auch auf den Abdruck des einen oder anderen eher weniger überzeugenden Beitrags verzichtet werden können; sodann wäre eine Untergliederung nach geographischen Räumen zumindest auch möglich gewesen.
Ein be­sonderes Gewicht haben hier Aufsätze, die sich mit dem ostsyrischen Bereich bzw. mit den Nestorianern befassen. Gleich an zweiter Stelle folgen die Armenier; ein weiterer Bereich umfasst schließlich Ägypten und Äthiopien. Eher protestantische Fragestellungen aus dem Raum der heutigen Türkei und des Libanon spielen am Rande eine Rolle. Auffällig ist hingegen die fast völ-­lige Abwesenheit des palästinensischen Christentums: Es spielt lediglich in der – durchaus spannenden – hermeneutischen Fragestellung einer angemessenen Positionierung nahöstlicher Chris­ten zum Alten Testament (durch Hadi Ghantous) eine Rolle. Wo­-ran mag es liegen, dass christliche Palästinenser in diesem Buch ansonsten gar nicht in den Blick kommen? Ist es möglich, dass der israelisch-palästinensische Konflikt das Theologieschaffen in diesem Teil des Orients in einer Weise überlagert hat, dass die daraus hervorgehenden Einlassungen an die Leserschaft eines solchen Bandes nicht mehr vermittelbar wären?
Das Buch endet einerseits in Europa – mit einem faszinierenden Exkurs über die »Fortsetzung religiöser Koexistenzstrukturen auf deutschem Boden« am Beispiel »orientalische[r] Christen in der Literatur muslimischer Migranten in Deutschland« (durch den Herausgeber Martin Tamcke) – und es endet andererseits mit der Würdigung des irakischen Erzbischofs Louis Sako, der wohl einer der am dramatischsten schrumpfenden christlichen Gemeinschaften der Welt vorsteht. Dieser Schluss ist eine Exilsperspektive, und insofern ist das über einen solch langen Zeitraum hinweg entstandene Werk womöglich ein prophetisches Buch. In dem Maße, in welchem die Christen des Orients zunehmend bedrängt und ihre Gemeinschaften in ihrer Existenz bedroht werden, schwinden auch die Gelegenheiten zu Kulturbegegnungen, aus denen sich die europäische Geistesgeschichte immer wieder genährt hat. Es ist daher im ureigensten europäischen Interesse, mit aller notwendigen Sensibilität für die Geschwister im Orient einzutreten und ihnen da, wo es gar nicht anders möglich ist, eine Zuflucht und ein neues Zuhause anzubieten.
Über alle theologischen, religionsgeschichtlichen und philologischen Anstöße hinaus, die dieses schöne Buch reichlich bietet, ist diese praktische Einsicht eine Konsequenz, welche sich nach der Lektüre geradezu aufdrängt.