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Ausgabe:

Juli/August/2013

Spalte:

886–888

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Sinner, Rudolf von

Titel/Untertitel:

The Churches and Democracy in Brazil. Towards a Public Theology Focused on Citizenship. With a Foreword by V. Westhelle.

Verlag:

Eugene: Wipf & Stock 2012. 406 S. Kart. US$ 45,00. ISBN 978-1-60899-385-7.

Rezensent:

Konrad Raiser

Bei diesem Buch handelt es sich um eine Untersuchung, die 2009 an der Universität Bern als Habilitationsschrift angenommen wurde. Ihr Autor Rudolf von Sinner lehrt seit 2003 an der Lutherischen Theologischen Hochschule in São Leopoldo Systematische Theologie, Ökumenik und Interreligiöse Beziehungen. Seine Untersuchung ist Teil eines größeren Forschungsprojekts über die Rolle von Religionsgemeinschaften und speziell christlichen Kirchen im öffentlichen Raum. Der Vf. versteht seine Untersuchung ebenfalls als Beitrag zur neueren internationalen Diskussion zur Frage einer public theology, wie sie seit 2007 im »Global Network of Public Theology« geführt wird.
Es war sein Interesse an der Befreiungstheologie, das den Vf. schon 1996 nach Brasilien zog. Er stellte dann freilich fest, dass die Befreiungstheologie kaum einen Beitrag zum Neuaufbau des Staates nach der Rückkehr zur Demokratie 1985 geleistet hatte. Ihre Ausrichtung auf die Utopie eines radikalen Systemwechsels hinderte sie daran, sich auf Initiativen mit dem Ziel konkreter gesellschaftlicher Veränderungen einzulassen. Sein Versuch einer »Re-Kontextualisierung« (100) der Befreiungstheologie im demokratischen Brasilien ist geleitet von der Hypothese, »dass öffentliche Theo­logie ein geeignetes, verbindendes Konzept ist für eine befreiende Theologie in Brasilien, die darauf ausgerichtet ist, soziale Gerechtigkeit und Transformation zu verwirklichen durch die Beförderung von ›Bürgerschaftlichkeit‹.« (7) [für den zentralen Begriff ›citizenship‹ gibt es im Deutschen keine adäquate Übersetzung]
Die umfassend angelegte, interdisziplinäre Studie geht in drei Schritten vor. Der erste Teil behandelt die historisch-politische Frage nach »Bürgerschaftlichkeit und Demokratie in Brasilien nach dem Übergang zur Demokratie« (13–120). Der Vf. zeichnet die politischen Entwicklungen vom Ende der Militärherrschaft bis zum Amtsantritt von Präsident Lula (2003) nach. Er kommt zu dem Schluss, dass Brasilien inzwischen eine be­standsfähige demokra­tische Struktur habe, auch wenn es nach wie vor extreme soziale Un­gleichheit und keinen verlässlichen Rechtsstaat gebe (34 ff.). Bei den notwendigen weiteren gesellschaftlichen und politischen Veränderungen spielt die Zivilgesellschaft, unter Einschluss der Kirchen, nach seiner Überzeugung eine zentrale Rolle, vor allem bei der Unterstützung von Bürgerschaftlichkeit im öffentlichen Raum und der Förderung des Ge­meinwohls der ganzen Gesellschaft (53 f.).
Eingehend begründet der Vf. seine Konzentration auf die Förderung von Bürgerschaftlichkeit im brasilianischen Kontext (68–99). Bürgerschaftlichkeit ist nicht allein eine Frage von Rechten und Pflichten, sondern beschreibt eine ›sozial-politische Identität‹, d. h. bürgerschaftliche Tugenden und eine Haltung der Bürger hinsichtlich ihres Status und ihrer Beziehungen zu anderen und zum Staat. Die Auseinandersetzungen um die volle Verwirklichung von Bürgerschaftlichkeit vollziehen sich in der Zivilgesellschaft, die damit selbst ein Symbol für demokratische, aktive und partizipatorische Bürgerschaftlichkeit wird (68 f.). Der erste Teil wird abgeschlossen durch eine kritische Auseinandersetzung mit der Befreiungstheologie in der Überzeugung, dass in Brasilien nach dem Übergang zur Demokratie eine neue theologische Perspektive über »Befreiung« hinaus notwendig ist. Der Vf. schlägt hierfür das Konzept einer öffentlichen Theologie mit dem Schwerpunkt auf Bürgerschaftlichkeit vor (117). Eine solche öffentliche Theologie folgt einem »dialogischen, kooperativen und konstruktiven Ansatz« (119).
Der umfangreiche zweite Teil (121–278) ist drei Fallstudien über die Römisch-Katholische Kirche, die Evangelisch-Lutherische Kirche und die pfingstlichen Assemblies of God gewidmet. Alle drei Kirchen werden untersucht unter der Leitfrage, wie weit und in welcher Weise sie zur Debatte im öffentlichen Raum beitragen. Als Ergebnis hält der Vf. fest (273 ff.): Die Römisch-Katholische Kirche hat sich auf der Grundlage der katholischen Soziallehre kontinuierlich zu öffentlichen Fragen geäußert. Sie hat nach wie vor einen großen Einfluss auf Politik und Gesellschaft. Allerdings lehnt sie eine Demokratisierung ihrer eigenen Strukturen ab. Die Evangelisch-Lutherische Kirche mischt sich seit ihrem Manifest von Curitiba (1970) in zunehmendem Maß in öffentliche Angelegenheiten ein. Auch wenn ihr Einfluss begrenzt ist, leistet sie durch ihre de­mokratische interne Struktur sowie durch ihre gesellschaftliche und ökumenische Praxis einen wichtigen Beitrag, indem sie ihre traditionell eher konservativen Mitglieder für bürgerschaftliches Engagement sensibilisiert. Die Assemblies of God schließlich sind zur größten Pfingstkirche weltweit geworden, vor allem durch Ausbreitung unter der armen Bevölkerung. Ihr Diskurs handelt kaum von Bürgerschaftlichkeit und Bürgerrechten, sondern eher von Pflichten, Gehorsam und Unterwerfung unter die vorhandenen Strukturen. Mehr als die anderen Kirchen haben die Pfingstkirchen es jedoch vermocht, Menschen, die durch Drogenabhängigkeit, Ge­fängnisaufenthalte oder Armut das Vertrauen in ihre eigene Würde verloren hatten, neues Selbstvertrauen zu ge­ben. Ihre Betonung des Priestertums aller Gläubigen steht freilich in Spannung zu einer hierarchischen, auf die Pastoren ausgerichteten Struktur. (Zusam­menfassender Vergleich auf S. 277 f.)
Der abschließende dritte Teil (279–348) entwickelt Umrisse einer öffentlichen Theologie, die auf Bürgerschaftlichkeit ausgerichtet ist. Eine theologische Ethik der Bürgerschaftlichkeit betont an erster Stelle die Bedeutung der Menschenwürde. Sie ist ausgerichtet auf die Bildung von Vertrauen als Grundlage menschlichen Zusammenlebens. Sie ist realistisch gegenüber den Zwiespältigkeiten der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Sie fördert die Praxis kommunikativer Freiheit. Und sie hält die geistliche und die weltliche Dimension der Existenz in ihrer Spannung zusammen. Eine solche öffentliche Theologie für Brasilien kann sich kritisch anregen lassen von ähnlichen Ansätzen in den USA, in Südafrika und Korea, die weniger den Widerstand als die kritisch-konstruktive Zusammenarbeit in der Zivilgesellschaft betonen. In Brasilien freilich hat ein solcher Ansatz noch immer mit erheblichen Widerständen sowohl in den Kirchen wie in der politischen Öffentlichkeit zu kämpfen. Dennoch ist der Vf. überzeugt, dass eine solche öffentliche Theologie einen wichtigen christlichen Beitrag für das Wohl der ganzen Gesellschaft leisten kann; denn die christlichen Grundsätze sind ausgerichtet auf das gedeihliche Zusammenleben aller Menschen und daher von Bedeutung über die Anhänger der christlichen Kirchen hinaus. In einem kurzen Schlussabschnitt (345–48) fordert der Vf. daher die Kirchen dazu auf, ihre öffentliche Rolle mit »Kühnheit und Demut« wahrzunehmen.
Es handelt sich bei der Untersuchung um eine sehr sorgfältige wissenschaftliche Arbeit, die eine Fülle von Impulsen und Literatur aus anderen Disziplinen aufnimmt. Das hier entwickelte Konzept einer öffentlichen, auf die Förderung von Bürgerschaftlichkeit ausgerichteten Theologie und Ethik ist weit über den brasilianischen Kontext hinaus von Bedeutung für die ökumenische Diskussion über die Rolle von Kirchen und Religionsgemeinschaften im globalen öffentlichen Raum.