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Ausgabe:

Juli/August/2013

Spalte:

884–886

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Bollig, Michael [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Christ sein in einer Kirche der Zu­kunft.

Verlag:

Würzburg: Echter 2012. 607 S. Kart. EUR 58,00. ISBN 978-3-429-03492-4.

Rezensent:

Volker Spangenberg

Im Mai 2012 feierte das Interdiözesane Seminar St. Lambert im rheinland-pfälzischen Lantershofen sein 40-jähriges Bestehen. Diese in Deutschland einzigartige Einrichtung des sog. »dritten Bildungswegs« bietet älteren Kandidaten ohne Abitur die Möglichkeit eines Theologiestudiums mit dem Ziel des priesterlichen Dienstes. Das Seminar kann dabei auf eine eindrucksvolle Ge­schichte zurückblicken, da sich nach dem Vorwort des Herausgebers des vorliegenden Bandes in den vergangenen vier Jahrzehnten über 750 Studenten aus 34 Diözesen und 36 Ordensgemeinschaften von insgesamt 107 Dozentinnen und Dozenten haben ausbilden lassen. Mehr als 450 Absolventen des Seminars empfingen bisher die Priesterweihe.
Die aus Anlass des Jubiläums erschienene Festschrift versammelt 33 Aufsätze aus der Feder von 31 ehemaligen und gegenwärtigen Dozentinnen und Dozenten; der Herausgeber Michael Bollig, Regens des Seminars und Dozent für Dogmatik und Spirituelle Theologie, ist als Einziger gleich mit drei eigenen Beiträgen vertreten. Eine übersichtliche Einteilung in »Perspektiven« erleichtert den Zugang zu dem umfangreichen Sammelband, dessen Lektüre der im Hinblick auf das Priesterseminar St. Lambert unkundige Leser sinnvollerweise mit den beiden ersten Beiträgen beginnt. Diese bieten einen Einblick in die Geschichte der Einrichtung – freilich lediglich in Gestalt einer Darstellung der drei Gründerväter, und eine Vorstellung des in Lantershofen verwirklichten Mo­dells der Priesterausbildung. Der letztgenannte Beitrag des Herausgebers stellt dabei die Studienorganisation des Seminars und zugleich darüber hinausgreifend die Besonderheiten einer außeruniversitären theologischen Ausbildung selbstbewusst, aber auch problembewusst – etwa im Blick auf das Fehlen des fächerübergreifenden Gesprächs mit den anderen (an einer Universität vertretenen) Wissenschaften – dar.
Die im Zusammenhang dieser Ausbildungsform konstatierte »stärkere Auswahl der Themen und die Vermittlung einer gediegenen Breite im Gegensatz zu speziellem Tiefenwissen« sowie die Orientierung »an dem konkreten Berufsbild des Priesters in heutigen seelsorglichen Kontexten« (35) prägt dann auch deutlich die Beiträge des Sammelbandes. Sie sind durchweg auf eine auch für den interessierten Laien verständliche und dennoch wissenschaftlich anspruchsvolle Weise »anwendungsorientiert« und wollen of­fensichtlich keine fachspezifischen Forschungsbeiträge liefern. Sie bleiben damit zugleich auf das Thema des gesamten Bandes konzentriert, nämlich das »Christ sein in einer Kirche der Zukunft« zu bedenken. Dies geschieht – da scheinen sich die meisten der Autorinnen und Autoren einig zu sein – angesichts der gegenwärtig zu notierenden Auflösung der gewohnten Sozialgestalt der Kirche, will heißen eines »langsamen Sterbens der Volkskirche« (421).
Wie angesichts dieser konkreten Situation in der Bindung an die kirchliche Tradition Christsein, Gemeindeleben und Priestersein gestaltet werden können, wird durch Analysen und Denkanregungen im Anschluss an die bereits genannten beiden Eingangsbeiträge perspektivisch in fünf Abteilungen entfaltet. Die »Biblischen Perspektiven« (fünf Beiträge) befragen dazu insbesondere die alt­-tes­tamentliche Prophetie und das Beispiel des Paulus. Die Übertragung auf die Herausforderungen der Gegenwart geschieht dabei mit Bewusstsein für den historischen Abstand und die Unterschiedlichkeit der jeweiligen Situation.
Die unter »Historische Perspektiven« versammelten beiden Beiträge zu Schenute von Atripe (ein Editionsbericht) und der Jesuiten-Mission der Chiquito-Indianer in Ost-Bolivien tun sich – kaum verwunderlich – deutlich schwerer im Blick auf den Brückenschlag zur Gegenwart.
Acht Aufsätze repräsentieren die »Systematische Perspektive«. Sie reichen von einer Relektüre von Lubacs »Catholicisme« von 1938 über eine Auseinandersetzung mit dem Problem des Relativismus, des Dialogs als Medium einer missionarischen Kirche und der Rolle der Philosophie im Rahmen des Theologiestudiums bis zum Versuch der Bestimmung eines unverkürzten Begriffs der »Praxis«. Letzterer Beitrag von Armin G. Wildfeuer kann als ein schönes Beispiel dafür gelten, wie gediegene Vermittlung der Geschichte des Begriffs, Problementfaltung und Lösungsversuch einander ergänzen.
Nahezu die Hälfte der Festschrift enthält »Pastorale Perspektiven« und »Spirituelle Perspektiven« (jeweils acht Beiträge). Die »pastoralen« Beiträge befassen sich mit moraltheologischen, religionspädagogischen, seelsorglichen, kirchenmusikalischen, missionarischen und pastoralpsychologischen Themen und mit dem Problem des Kommunionempfangs Geschiedener. Die »Spirituellen Perspektiven« behandeln eine Fülle von Überlegungen aus der geistlichen Tradition und der gegenwärtigen Frömmigkeit; die Palette reicht hier vom Gedanken der sog. »Zweiten Bekehrung« über das Pilgern (Heilig-Rock-Wallfahrt), den Zölibat, den neureligiösen Engelglauben, die Geistlichen Übungen von Ignatius von Loyola und Vinzenz Pallotti bis hin zu Betrachtungen über Bernhard Schlinks Roman »Der Vorleser«.
Zwei Beiträge aus den »Spirituellen Perspektiven« seien herausgegriffen, weil sie in ihrer Argumentationslinie ähnlich gelagert und in gewisser Weise bei aller – auch formalen – Verschiedenheit typisch für die Grundausrichtung der gesamten Festschrift erscheinen. Felix Genn, Bischof von Münster und in den 1990er Jahren Regens von St. Lambert, macht in seinem existenziell anrührenden »Brief an einen Mitbruder über die priesterliche Lebensform des Zölibats« deutlich, dass angesichts des Zerbrechens der Volkskirche der Weg in die Kirche der Zukunft nicht in einer »Entkopplung von priesterlichem Dienstamt und Zölibat« liegt, sondern darin, »dass wir von einer versorgten zu einer sich selbst versorgenden Gemeinde kommen müssen« (513). Der analytisch scharfsinnige Beitrag des emeritierten Dogmatikers und Dozenten für Spirituelle Theologie am Seminar St. Lambert, Gisbert Greshake, zum »Priestersein in einer Kirche, die anders sein wird« geht ebenfalls davon aus, dass dem unaufhaltsamen Wandel der volkskirchlichen Gestalt der Kirche nicht durch die Änderung der Zulassungsbedingungen zum Priesteramt zu begegnen ist. Vielmehr ist die Zukunft der Kirche das »gemeinsame Engagement« von pries-terlichem Amt und Laienbeteiligung, denn: »Die Kirche der Zukunft wird […] eine Kirche der Laien sein, oder sie wird nicht sein.« (538)
Wie liest man dieses Buch unter der speziellen Perspektive des Rektors einer evangelisch-freikirchlichen theologischen Hochschule? Blickt man auf die Vielfalt der Festschrift, so wird man gewiss auch als Angehöriger einer anderen Konfession Ähnlichkeiten in der Analyse der kirchlichen Situation der Gegenwart entdecken können. Allerdings sind die Beiträge insgesamt durch eine klare Ausrichtung auf die (deutsche) römisch-katholische Binnenperspektive, den Rückgriff auf katholische Literatur und offizielle kirchlich-lehramtliche Äußerungen und eine spürbare Konzentration auf das »Christ sein« im Priesteramt gekennzeichnet. Ökumenische Brückenschläge sind in dieser Sammlung rar. Das schmälert nicht den Zugewinn an Erkenntnis, Perspektive und Denkanstößen. Der Titel »Christ sein in einer Kirche der Zukunft« ist dennoch mit entsprechenden Einschränkungen zu lesen.