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Ausgabe:

Juli/August/2013

Spalte:

880–882

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Lienhard, Fritz

Titel/Untertitel:

Grundlegung der Praktischen Theologie. Ursprung, Gegenstand und Methoden.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2012. 350 S. = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 49. Geb. EUR 48,00. ISBN 978-3-374-03003-3.

Rezensent:

Reiner Preul

Das Buch von Fritz Lienhard erschien zuerst in Französisch unter dem Titel »La démarche de théologie pratique«, der auch dem Inhalt am besten entspricht: L. beschreibt, wie er als Lehrer der Praktischen Theologie, gestützt auf seine Erfahrungen mit Lehrvikaren in Montpellier und Heidelberg, verfährt, und teilt mit, welche grundsätzlichen Überlegungen und forschungspraktischen Un­ternehmungen er dabei für wichtig hält, wobei es ihm zugleich um die Klärung des wissenschaftlichen Status der Praktischen Theologie geht.
Was bei diesem Verfahren, wie es in der »Einleitung« (13–28) begründet wird, nicht erreicht, auch nicht beabsichtigt wird (vgl. 283), obwohl L. ein »System« der Praktischen Theologie für notwendig hält (74 ff.), ist der Ausblick auf einen Grundriss in Gestalt eines die unterschiedlichen Subdisziplinen der Praktischen Theologie konstituierenden und koordinierenden Konzeptes. Am Ende ist nur von der Predigt und von Kirchentheorie (im Anschluss an das Reformpapier der EKD) die Rede.
Die Arbeit ist in sechs Kapitel gegliedert: I. Die Praktische Theologie bei Schleiermacher, II. Paradigmen der Praktischen Theologie, III. Kommunikation des Evangeliums, IV. Beschreibende Theologie, V. Hermeneutische Theologie, VI. Praktische Theologie; darauf folgen noch »Allgemeine Schlussüberlegungen«.
Die Orientierung an Schleiermacher dient der Begründung der praktischen Ausrichtung der gesamten Theologie, die dann in der Praktischen Theologie ihre Zuspitzung auf die kirchliche Praxis findet. Zugleich aber will L. über Schleiermachers Bestimmung der Praktischen Theologie als technischer Disziplin hinaus ihr ein eigenes Forschungsfeld eröffnen; das entspricht der weithin üblichen Schleiermacher-Rezeption. Allerdings verlässt L. die Spur Schleiermachers wieder, wenn er das auf »Kirche« und ihr Handeln bezogene Paradigma zusammen mit dem an »Religion« orientierten verwirft, um alternativ dazu für »Kommunikation des Evangeliums« als ein drittes Paradigma der Praktischen Theologie zu votieren. Kirche, Religion und Kommunikation des Evangeliums liegen aber als Gegenstandsindikatoren der Praktischen Theologie gar nicht auf einer Ebene, weshalb sich auch zumindest die Vertreter des kirchlichen Paradigmas jene Formel E. Langes ohne Weiteres zu eigen machen können, mit dem Vorteil, dass sie der Kommunikation des Evangeliums im Blick auf unterschiedliche Situationen, Formen und Medien kirchlicher Kommunikation eine differenzierte Gestalt geben können.
Freilich ist über die Kommunikation des Evangeliums noch in anderer Weise nachzudenken: als ein an die Sprache gebundenes den Glauben erweckendes Geschehen, als »ein handelndes Wort«. Und diesem Aspekt widmet sich L. nun intensiv. Was er hierzu in Kapitel III unter Bezugnahme auf moderne Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Sprechakttheorie, Strukturalismus (den er als Auflösung des Subjektes kritisiert), die kommunikative Praxis Jesu, Luther und die Theologie des Wortes, schließlich im Blick auf das Geschehen von Kreuz und Auferstehung als »Bruch« und dann doch als »Sieg der Kommunikation« (fortgeführt in Kapitel V) vorträgt, das entzieht sich einer klaren Zusammenfassung. Eine ganz eigene sachorientierte Gedankenführung, die die Bezüge zu je­weils einschlägigen wissenschaftlichen Debatten in Anmerkungen oder exkursorisch berücksichtigt, hätte die von L. verfolgte Linie (hier und in den weiteren Kapiteln) deutlicher hervortreten lassen. Als Gewinn ist aber das von L. entworfene »Dreieck der Sprache« mit den Relaten »Subjekt«, »Anderer« und »Welt« festzuhalten. So ergibt sich: »Die Kommunikation des Evangeliums verändert die Sprache und auf diese Weise auch das Subjekt, das Ge­genüber und die Welt. Dieses Handeln ist die Praxis, die der eigentliche Gegenstand der Praktischen Theologie ist.« (150) Die Kom­munikation des Evangeliums bestimmt sich von Jesus Chris­tus her als »performative«, »paradoxe«, »unterbrochene« und »anredende Sprache« (181).
Kapitel IV enthält nach Ablehnung deduktiven Vorgehens in der Praktischen Theologie eine klare Darstellung zur Methodologie empirischer Feldforschung, für die die Theologie und die kirchliche Praxis die Fragestellungen vorgeben. Dabei »spielt der Glaube bezüglich der Art und Weise eine Rolle, die empirische Wirklichkeit zu sehen« (198). L. plädiert besonders für die Methoden der qualitativen Sozialforschung und der von Stefanie Klein in die Praktischen Theologie eingebrachten »Grounded Theory« (219 ff.). Zu fragen ist hier nur, in welchem Maße ein Pastor vor Ort sich mit solch aufwendiger Feldforschung nach L.s Meinung befassen soll. L. geht auch auf die der Praktischen Theologie eigene inner- und außer theologische Interdisziplinarität ein und kommt zu der beher­-zigenswerten Einsicht, dass ein praktischer Theologe, der sich nicht auch als systematischer Theologe betätigt, indem er Themen der Systematischen Theologie aus eigener Perspektive rekonstruiert (253), aufhört, »für die Vertreter der Humanwissenschaften ein in­teressanter Gesprächspartner zu sein« (236 f.).
Die Erörterung der Beziehung zwischen Praktischer und Systematischer Theologie wird in Kapitel V fortgeführt, denn der zweite Teil des praktisch-theologischen Vorgehens besteht darin, »theologische Texte und Themen in Verbindung mit der beschriebenen Situation zu interpretieren« (242), Deutung aber sei Sache der Systematik. Aber wie steht es mit den exegetischen Disziplinen? L. be­zieht sich dann ausführlich auf Ricœurs Hermeneutik. Das Kapitel enthält einige gedankliche Eigenwilligkeiten. Man weiß auch manchmal nicht, ob von der Praktischen Theologie als Wissenschaft oder von der konkreten Auslegungspraxis in der Gemeinde die Rede ist. Die Irritationen reichen bis ins Formale, wenn etwa in B, II unter der Überschrift »Die dreifache Distanz des Textes« vier arabisch bezifferte Arten der Distanzierung verhandelt werden (257–264).
Das den handlungspraktischen Konsequenzen als der dritten Phase im Vorgehen der Praktischen Theologie gewidmete Kapitel V fällt mit nur 35 Seiten sehr knapp aus, wobei der größere Teil auch noch auf allgemeine Fragen (bezüglich Vernunft, Wissenschaft, Dialog) verwendet wird. Was über das Projekt der Predigt (»Projekt« meint »Vorhaben einer gemeinsam reflektierten Veränderung«, 282), bei der es um »Heil und Heilung« geht, ausgeführt wird, bleibt mit dem Plädoyer für »emotionale Predigt« und der ärgerlichen Karikatur zur »intellektuellen Predigt« (288) hinter den Möglichkeiten und Erfordernissen zeitgemäßer Kanzelrede zurück. Nachdem die Nähe der Praktischen zur Systematischen Theologie immer wieder bekräftigt wurde, hätte man mehr Verständnis für das intellektuelle Orientierungsbedürfnis der Zeitgenossen und für die von der dialektischen Theologie verpönte Themenpredigt erwartet. Hier rächt sich auch, dass L. das Evangelium sowie Kreuz und Auferstehung nur kommunikationstheoretisch als Sprachgeschehen, nicht aber im Blick auf das Thema der Rechtfertigung und im Gesamtzusammenhang des christlichen Wirklichkeitsverständnisses reflektiert, also dogmatisch unterbestimmt lässt. Die Grundunterscheidung kommunikatives/disponierendes Handeln (293), mit der das Projekt Kirchentheorie eingeleitet wird, stammt übrigens nicht von Schleiermacher. Aus den Schlussüberlegungen ist das Eintreten für methodische Ausbildung im Studium zustimmend hervorzuheben.
Das mit den üblichen Registern versehene Buch gibt eine Reihe fruchtbarer Denkanstöße, macht aber als Ganzes einen unfertigen Eindruck. Daher würde ich es für Studium und Vikarsausbildung eher nicht verwenden. Ein besonderer Reiz liegt in der Bezugnahme auf zahlreiche hierzulande nicht bekannte französische Publikationen.