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Ausgabe:

Juli/August/2013

Spalte:

873–874

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Vanberg, Viktor J. [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Marktwirtschaft und soziale Ge­rechtigkeit. Gestaltungsfragen der Wirtschaftsordnung in einer demokratischen Gesellschaft.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2012. VIII, 351 S. = Untersuchungen zur Ordnungstheorie und Ordnungspolitik, 63. Kart. EUR 59,00. ISBN 978-3-16-150714-4.

Rezensent:

Andreas Pawlas

Nicht nur das Hayeksche Verdikt, dass es keine sinnvolle Verbindung von Verteilungsgerechtigkeit und marktwirtschaftlicher Ordnung geben könne (2), sondern erst recht die aktuelle Finanzkrise brachte die Marktwirtschaft in die Kritik. Das nahm das Walter Eucken Institut 2009 zum Anlass, in einem Symposium die Thematik von Marktwirtschaft und sozialer Gerechtigkeit interdisziplinär zu diskutieren und in dem vorliegenden Band zu do­kumentieren. Dabei ist sehr fruchtbar, dass dem/den Referat(en) aus einer Disziplin ein entsprechendes Korreferat an die Seite gestellt wurde. Verständlicherweise können in dieser Rezension nur ausgewählte Aspekte dargestellt werden.
Nach Vorwort und Einführung des Herausgebers (1 ff.) stellt G. Lohmann die Menschenrechte als normativen Maßstab für die globalisierten Wettbewerbsmärkte vor – ergänzt durch freiwillige »Selbstverpflichtungen« (12). M. Rechenauer macht sodann ferner darauf aufmerksam, dass der Markt von Voraussetzungen lebe, die er nicht selber garantieren könne (36). Insofern bestehe die Notwendigkeit, »Solidarität zu gewährleisten« sowie »die Funktionsweise des Marktes gegen die in ihm angelegten Tendenzen, sich selbst auszuschalten, zu verteidigen« (38), wozu entsprechende Rahmenbedingungen erforderlich seien (41). T. Wesche widmet sich in seinem Korreferat den Prinzipien der Ge­rechtigkeit, na­mentlich Gleichheit, Leistung und Bedarf, die sich gegenseitig ergänzten und korrigierten (49). Offen bleibt dabei aber, ob es allein durch steuerliche Korrekturen gelingen kann, den Erwerbstätigen in Sozialberufen jenes Einkommen zu garantieren, »das ihre soziale Arbeit verdient«, das aber von Arbeitgebern nicht gezahlt werden kann (50).
G. Kruip beansprucht sodann, die Thematik aus der »Perspektive der christlichen Sozialethik« zu erörtern (51 ff.). Seine diversen Verweise auf päpstliche Sozialenzykliken sind aufschlussreich, aber er vermerkt selbst, dass das Problem der Veränderung von Strukturen und Institutionen nicht genügend auftauche (59). Und sein Hinweis auf das gemeinsame »Sozialwort« der beiden großen deutschen Kirchen von 1997 und die dort verankerte »Option für die Armen« (59) heilt nicht, dass er ansonsten die protestantische Sozialethik schlicht ignoriert. A. Habisch kritisiert in seinem Korreferat ebenfalls die Engführung auf päpstliche Enzykliken (71) und blickt ebenso wenig auf die protestantische Sozialethik. Für ihn entfaltet sich der Beitrag christlicher Sozialethik für eine gerechte internationale Ordnung wesentlich »von den So­zialprinzipien Personalität, Subsidiarität und Solidarität her« (78).
Aus juristischer Perspektive stellt C. Seiler heraus, dass der Gesetzgeber die soziale Marktwirtschaft nur »einfachrechtlich« festgeschrieben habe (82). Aus Gerechtigkeitsgründen moniert er berechtigt die Benachteiligung u. a. Nichterwerbstätiger und Kinder (88 f.) und die nur nationale Verankerung des Solidargedankens, da sie großen Unternehmen und Vermögenden steuerliche Ausweichmöglichkeiten zu Lasten von Arbeitnehmern und Familien gäben (91 f.). Als Korreferent widmet sich U. Sartorius vor allem kritisch der Sicherung des Existenzminimums als Beitrag des Sozialrechts zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit (95 ff.).
J. Althammer setzt sich dann hauptsächlich mit der »ökonomischen Ethik« K. Homanns auseinander, die beanspruche, die Ökonomik als »Ethik mit besseren Mitteln« oder schlicht als »die bessere Ethik« zu verstehen (111). Zu Recht kritisiert er dabei deren Begründung als auch Implementierung (112 ff.). Dagegen müsse es Aufgabe der Wirtschaftsethik sein, ein »Verteilungsparadigma unter Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit, aber auch der Defizite marktlicher Steuerungsmechanismen zu formulieren« (118). Als Korreferent stimmt M. Schramm der Kritik an der »ökonomischen Ethik« zu (122 f.) und fordert angesichts der Komplexität der Gerechtigkeitsfrage eine ethische Theorie der Gerechtigkeit im Sinne einer »flexiblen Gerechtigkeit« (121.128).
B. Priddat stellt in seinem Beitrag »die in der Ökonomie geltende Unabhängigkeitsbehauptung der rational choice in Frage« (139) und plädiert für eine »prozessuale Konzeption der Gerechtigkeit« als Fairness (138). Zu Recht betont er dabei, welch eine hohe Bedeutung dabei das »Maß des kommunizierten Vertrauens« habe (140, auch 148). Wenn er dann mit Binmore das Ergebnis von »Vertragsspielen« (bargaining) deshalb normativ als fair ansieht, weil es allgemein akzeptiert werde (143), so muss das allein angesichts der Implementierungsprobleme der allgemein akzeptierten Menschenrechte erstaunen.
Auch H. Sautter kritisiert die Modellwelt des »neoklassischen Paradigmas« (156 ff.), in der die Frage nach der Verteilungsgerechtigkeit ausgeblendet und damit letztlich ein ethisches Urteil ausgesprochen wird (158). Aber das würden die meisten Ökonomen im Interesse prägnanterer und besser formalisierter Analysen in Kauf nehmen, zumal der ökonomische Erfolg mehr zur Überwindung von Armut beitragen könne als alle Verteilungspolitik (166). Nach Sautter würde man hier jedoch »über das Ziel hinausschießen« (179), zumal ungerecht empfundene Entlohnungen, Preisbildungsprozesse oder Vermögensverteilungen zu Effizienzverlusten oder Wachstumshindernissen führen könnten. Auf jeden Fall bedeute eine Verdrängung des Gerechtigkeitsproblems »einen Verlust an Relevanz« für die Ökonomie (179). Entsprechend sieht H. G. Nutzinger als Korreferent die traditionelle Ökonomik durch Ausblendung ethischer Fragen der Gerechtigkeit in der Gefahr einer Selbstisolation (189 f.). Sautters Überlegungen ergänzt er zu Recht um die Debatten um eine »Startchancengerechtigkeit« (185) und »Generationengerechtigkeit« (186) sowie bezüglich des Effizienzbegriffs (186) und des Problems der Unsicherheit (188). Priddats Vorschlag einer Verfahrensgerechtigkeit hält Nutzinger für zu weitgehend und insgesamt für nicht zufriedenstellend (192 f.).
Der Beitrag von U. Wagschal/F. Neumann/S. Jäckle untersucht sodann die These Okuns von einem Trade-off zwischen Effizienz und Gerechtigkeit (195). Mittels diverser Statistiken und Indizes meinen sie auf OECD-Ebene belegen zu können, dass es »keinen pauschalen Trade-off zwischen Effizienz und Ge­rechtigkeit« gebe (223). An den folgenden politologischen Erwägungen von R. Zintl ist bemerkenswert, dass er den Markt nicht moralisch durch Nachschuss- und Ordnungsbedarf diskreditiert sieht. Es sei aber ethisch kritisierbar, »wenn politisch nicht darüber nachgedacht wird, ob Einbettungen oder Dämpfungen angebracht sein könnten« (240). Als Korreferent signalisiert F.-J. Grüggmeier Zustimmung zu den Beiträgen von Zintl und Wagschal, ergänzt aber, dass der Untersuchungszeitraum des Letzteren sehr speziell war. Dagegen habe die aktuelle Krise »ausgeprägte Formen von Marktversagen aufgezeigt« und »Staaten sowie internationalen Institutionen vielfältige Aufgaben« zugewiesen (244). Aber es ergäben sich auch neue Fragen, wenn in dieser Krise ein »Grundelement des Marktes – das Risiko des Scheiterns« weitgehend ausgehebelt gewesen sei (245).
Aus der Sicht der Soziologie stellt sodann M. Baurmann Gerechtigkeitsüberzeugungen als »kollektives Wissen« einer Gruppe, einer Klasse, einer Gesellschaft dar. Der Einzelne sei dabei Mitglied einer »epistemischen Ge­meinschaft« mit anderen Personen, »die gemeinsam über ein bestimmtes kollektives Wissen verfügen« (253). Da Wissen vielfach nur »aus zweiter Hand« (254) erreichbar sei, komme dem Vertrauen »eine Schlüsselrolle bei der Wissensvermittlung durch Zeugnis zu« (256). Auch Gerechtigkeitsüberzeugungen entstünden so auf der Grundlage epistemischen Vertrauens (264 ff.), würden durch »Exklusion, Selbstselektion und Adaption« verstetigt (268 f.), generalisiert (269 f.), aber gegebenenfalls auch verändert (270 f.). Anschließend referiert S. Liebig seine These, dass Gerechtigkeit gerade in demokratisch verfassten und marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaften wichtig sei, weil sie eine Voraussetzung für freiwillige Kooperation bedeute. Ein Sinn für Gerechtigkeit sei ein Schutzmechanismus mit dem Zweck, sich selbst und die eigene Kooperationsbereitschaft vor Ausbeutung durch andere zu schützen (276.289). Als Korreferent bedauert E. Weede, dass Baurmann und Liebig eine explizite Diskussion der Frage vermieden, »welche Kosten welches Gerechtigkeitsideal in einer Gesellschaft verursachen könnte« (297). Das von Liebig für das Gerechtigkeitsstreben herausgestellte Motiv des Schutzes vor Ausbeutung durch andere beurteilt er zu Recht viel negativer als dieser. Denn das sei keine Tugend und untergrabe »den Markt, den Wohlstand und das Wachstum« (301).
G. Minnameier versucht sodann letztlich die Ansätze Homanns und Wielands wirtschaftsdidaktisch umzusetzen (303 ff.). Dabei bleiben aber die auch in diesem Band an Homanns »Ethik« gestellten Fragen unbeantwortet. Als Korreferent beklagt H. J. Schlösser erst einmal, dass Euckens Denken in Ordnungen in der Wirtschaftsdidaktik fehle (326), und markant wendet er sich weiter zu Recht gegen die Behauptung, »der Kern von Marktwirtschaft beinhalte, dass der am besten fährt, der sich um Moral am wenigsten schert« (327).
Am Ende des Sammelbandes finden sich erfreulicherweise nach dem Autorenverzeichnis auch ein Personenregister und ein Sachregister. Insgesamt wird ein vielfältiger Überblick über die aktuellen Diskussionen zu Fragen der Marktwirtschaft und sozialen Gerechtigkeit geboten, dem man nur eine breite Rezeption wünschen kann.