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Ausgabe:

Juli/August/2013

Spalte:

870–872

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Tremmel, Jörg

Titel/Untertitel:

Eine Theorie der Generationengerechtigkeit.

Verlag:

Münster: mentis-Verlag 2012. 341 S. Kart. EUR 48,00. ISBN 978-3-89785-706-3.

Rezensent:

Wolfgang Erich Müller

Jörg Tremel nimmt die von Hans Jonas herausgearbeitete Denkfigur einer Verantwortung für zukünftige Generationen zum Ausgangspunkt seiner Fragen nach der Möglichkeit einer intergenerationellen Gerechtigkeit, denen er in drei großen Kapiteln nachgeht: zunächst klärt er den Status der Obligationen gegenüber zukünftigen Generationen (65–118), dann die axiologischen Ziele (119–212) und schließlich die quantitativen Anforderungen an die Gerechtigkeit (213–287). Es macht, vorweg gesagt, die Wichtigkeit dieser philosophischen Dissertation (betreut von Dieter Birnbacher, Düsseldorf) aus, dass sie viele empirische Fakten verarbeitet und so in engem so­zialwissenschaftlichem Bezug zur konkreten Gesellschaft steht und dazu viele juristische und ökonomische Sachverhalte einbezieht. Dies macht diese Arbeit zu einer wichtigen Gesprächsgrundlage für zukunftsethische Reflexionen auch theologischer Sozialethik.
Ein sachgemäßes Konzept der Generationengerechtigkeit be­ruht auf dem Vergleich zwischen Generationen: beim direkten tem­poralen Vergleich werden »heutige ›Junge‹ und ›Alte‹ vergli­chen«, beim indirekten Vergleich aber »Alter mit Alter oder Jugend mit Jugend« (54), um so beispielsweise den Anteil der Alten an So­-zialhilfeempfängern zweier Generationen intertemporal bestimmen zu können. Damit können gerade diese indirekten »Vergleiche von Gesamtlebensverläufen […] Aufschluss über Generationengerechtigkeit geben« (63).
Nach dieser begrifflichen Verständigung geht es um die Beantwortung der ersten Frage, ob »eine Generation ihren Nachfolge-Generationen überhaupt etwas schuldig« (65) sei. Eine Antwort ergibt sich aus der Reziprozität; da jede Generation von ihrer Vorgänger-Generation etwas erhielt, hat sie eine entsprechende Verpflichtung gegenüber der nachfolgenden Generation. Dieser Ge­danke lässt sich auf die Reziprozität zwischen temporalen und familialen Generationen ebenso beziehen wie auf intertemporale Generationen. Damit lässt sich die Bestreitung der Pflichten gegenüber kommenden Generationen nicht aufrecht erhalten (72 – 92). Folglich korreliert T. die Pflichten der heutigen Generationen mit den Rechten, die zukünftige haben werden. »Wenn dies aber so ist, dann ist es nicht nur möglich, sondern auch notwendig, von den Rechten künftiger Menschen zu sprechen, falls man akzeptiert, dass Pflichten gegenüber der Nachwelt bestehen« (105). Neben diesen moralischen Rechten sind die juridischen Rechte festzuhalten, wie sie Art. 20a GG formuliert. Grundsätzlich ist damit das Vorhandensein von »Pflichten gegenüber kommenden Generationen« gesichert, so dass es nun um deren »Ausmaß« (118) gehen kann.
T. stellt zur Beantwortung seiner zweiten Frage, was generationengerecht weitergegeben werden kann, zwei Ansätze gegenüber, von denen der erste am Kapital (119–152) und der zweite am Wohl (153–210) orientiert ist. Der Kapitalansatz will den zur nächsten Generation weiterzugebenden Güterkorb erfassen und differenziert zwischen dem natürlichen und dem künstlichen Kapital, also zwischen den nutzbaren »von der Natur bereitgestellten Res­sourcen« (120) und den von Menschen geschaffenen Werten, unterschlägt aber nicht die negativen Hinterlassenschaften. T. kommt nach genauen Untersuchungen zu dem Resultat, »dass der Kapi­-talienansatz nicht in der Lage ist, die axiologische Frage zu beantworten, was zukünftigen Individuen wichtig sein wird und was wir erhalten sollten« (151). Damit sind die notwendigen vollständigen Generationenbilanzen nicht möglich.
Das Wohl als axiologisches Ziel der Generationengerechtigkeit beschreibt T. anhand der Begriffe Glück, Zufriedenheit, Lust, Nutzen und Lebensqualität, was er im Begriff der Bedürfniserfüllung zusammenfasst. Diesem Ziel gibt er den Status einer Letztbegründung: »Das Streben nach Erfüllung seiner Bedürfnisse ist der gemeinsame Nenner, die conditio humana, aller Menschen, heutiger und zukünftiger […]. Eine weitere Begründung ist weder möglich noch nötig« (165). Askese und Tugend als axiologische Ziele weist T. zurück, weil der Asketismus »dem weltlichen Dasein Wert und Würde weitgehend« (167) abspricht und deshalb in säkularen Gesellschaften nicht überzeugt. Dagegen bleibt die Tugend auf »das Wohl eines anderen Menschen« (170) bezogen. Mit dem Wert des Wohls – und nicht des Nutzens – hat T. zugleich die Abgrenzung des Utilitarismus vollzogen.
Um das Wohl näher fassen zu können, ist dessen Indikation nötig. Hier hat Georg H. von Wright mit den objektiven Lebensbedingungen und dem subjektiv wahrgenommenen Wohlbefinden 1963 erstmals »zwei Ansätze zur Messung von ›Wohl‹« (173) unterschieden, aus denen viele weitere Indikatoren entwickelt wurden. Für den intergenerationellen Kontext kann der HDI (Human De­velopment Index) gegenüber dem HWI (Human Wellbeing In­dex) und dem WISP (Weighted Index of Social Process) den Begriff des Wohls am konsistentesten operationalisieren, da seine Daten für fast zwei Jahrhunderte rekonstruktiv ermittelbar sind, während die Daten der beiden anderen Indizes nur für ein Jahr bzw. 30 Jahre vergleichbar sind. Der HDI lässt das Fazit zu, »dass die Lebensqualität seit rund zweihundert Jahren von Generation zu Generation zugenommen hat« (208). Allerdings bleibt es auch unbestreitbar, dass das Wohl in der menschlichen Geschichte ungleich verteilt war – und auch bleiben wird. Wenn »von einer ›gerechten Verteilung‹ zwischen den Generationen die Rede ist, so bedeutet dies, die Rahmenbedingungen so zu setzen, dass sich für künftige Generationen ein bestimmter, als gerecht empfundener HDI einstellen kann« (212). Damit ist die dritte Frage angesprochen, »wie Wohl gerecht zwischen Generationen verteilt werden kann« (213).
Nach der Reflexion gegenwärtiger Gerechtigkeitstheorien (213– 255) und der Zustimmung zur Konzeption der Gerechtigkeit als Universalisierbarkeit nimmt T. von Rawls das Denkmodell des Schleiers der Unwissenheit auf, unter dem die im Urzustand Versammelten Grundsätze der Gerechtigkeit formulierten. T.s Version lautet: »1.) Maximiere den Durchschnitt der individuellen Wohlniveaus aller Mitglieder aus allen Generationen. Dabei besteht für jede Generation als wichtigste Pflicht, Kriege und ökologische, soziale und technische Zusammenbrüche, die zu großen Einbußen menschlichen Wohles führen können, zu vermeiden. 2.) Keine Generation ist dazu verpflichtet, größere Sparleistungen zu erbringen, als ihre Vorgängergeneration.« (252) Dabei wird das Wohl nach dem objektiven Maßstab des HDI erfasst – und ist damit nicht egalitaristisch. T. überprüft die weit verbreitete These von der Konstitution der Ge­rechtigkeit durch die Gleichheit (256–275). Da aber sowohl Leistung, Anstrengung und Bedarf zu berücksichtigen sind, ist der Fokus auf eine reine Gleichheit für die Gerechtigkeit zu undifferenziert: »Wieviel Gleichbehandlung und wieviel Ungleichbehandlung angemessen ist, lässt sich nicht generell, sondern immer nur auf den konkreten Einzelfall bezogen sagen.« (265)
Für die intergenerationelle Gerechtigkeit folgt daraus die die Verschiedenheit der Generationen berücksichtigende Maxime der Chancengerechtigkeit: »Jede Generation soll ihr Potential im vollen Ausmaß verwirklichen können« (270). Diese Aussage fasst T. in dem Begriff »Gerechtigkeit der Reziprozität« (286) zusammen. Eine solche Konzeption stellt künftige Generationen nicht nur nicht schlechter als gegenwärtige – und ist damit für den intergenerationellen Kontext geeignet, sondern – aufgrund der erwiesenen Zu­nahme des HDI – beinhaltet sie die Möglichkeit der Weiterentwick-lung: »Generationengerechtigkeit ist erreicht, wenn die Chancen der Angehörigen der nächsten Generation, sich ihre Bedürfnisse erfüllen zu können, im Durchschnitt besser sind als die der Angehörigen ihrer Vorgänger-Generation« (290). T.s allgemeine Theorie der Generationengerechtigkeit beschränkt diese »Ermöglichung von Besserstellung […] nur auf das axiologische Gut ›Wohl‹« (291) – die Konkretisierung für einzelne Felder, wie Ökonomie, Bildung, Ökologie, formuliert eine breite Aufgabenstellung an die materiale Sozialethik.