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Ausgabe:

Juli/August/2013

Spalte:

868–870

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Hübner, Jörg

Titel/Untertitel:

Ethik der Freiheit. Grundlegung und Handlungsfelder einer globalen Ethik in christlicher Perspektive.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2012. 509 S. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-17-021644-0.

Rezensent:

Friedrich Lohmann

Nach verschiedenen Veröffentlichungen zu ethischen Einzelthemen, insbesondere aus dem Bereich der Wirtschaftsethik, hat Jörg Hübner ein Buch vorgelegt, das einen ungleich umfassenderen Anspruch erhebt: Im Sinne einer »ethischen Theologie« soll die »ganze Wirklichkeit« einer orientierenden Deutung aus christlicher Sicht unterzogen werden (vgl. 163). Der Zugriff ist dabei ein systematischer: Zunächst wird in einem Grundlegungsteil dargestellt, was diese christliche Wirklichkeitsdeutung auszeichnet – ein spezifischer Akzent auf Freiheit und ein spezifisches Verständnis von Freiheit, das den Affekten eine besondere Relevanz zuweist (23–167); sodann folgen im zweiten Teil »Konkretionen und Bewährungsfelder einer Ethik der Freiheit in globaler Perspektive« (203–388; zwischen beiden Teilen eingebettet ist eine »Zwischenüberlegung« zur »Bedeutung von Freiheit in den anderen Religionen«, 169–202); diese Konkretionen greifen insofern systematisch auf den Grundlegungsteil zurück, als sie den Stoff der ethischen Betrachtung sieben affektiven Haltungen zuordnen (Achtung, Ehrfurcht, Liebe, Kreativität, Mut, Fantasie, Teilhabe), die dann jeweils nach den drei zuvor herausgearbeiteten »Reflexionsstufen« von Freiheit (selbstbezogen, gemeinschaftsbezogen, reflexiv-transzendental, vgl. vor allem 25–29) durchbuchstabiert werden, so dass insgesamt 21 Unterkapitel entstehen, in denen jeweils ein »Bewährungsfeld« der christlich-freiheitlichen Wirklichkeitsdeutung deskriptiv und normativ in den Blick genommen wird.
Mit der Bezeichnung des Gesamtprojekts als »ethische Theologie« greift H. ausdrücklich auf Trutz Rendtorff zurück (vgl. 163), und auffällig als Parallele ist in dieser Hinsicht beim Vergleich mit Rendtorffs vor 30 Jahren erschienener zweibändiger »Ethik« nicht nur der gemeinsame umfassende und systematische Anspruch, sondern auch dessen strukturell gleiche methodische Umsetzung durch den Rückgriff auf ein Dreierschema, bei dem die traditionelle Aufteilung in Bereichsethiken bewusst aufgegeben wird. Nähe zu Rendtorff besteht auch darin, dass das Christentum eminent als Freiheitsbotschaft interpretiert wird. Auf der Basis dieser Gemeinsamkeiten mit Rendtorffs ethischem Entwurf lässt sich die Originalität von H.s Buch gut bestimmen. Denn wo Rendtorff in seiner Arbeit seit den 1960er Jahren bemüht ist, in Auseinandersetzung mit einer Theologie, die dem Gedanken menschlicher Autonomie äußerst kritisch gegenüberstand, die Gemeinsamkeiten von christlicher Freiheitsbotschaft und neuzeitlichem, dem menschlichen Individuum zugewandten Freiheitsversprechen hervorzuheben, schreibt H. seine »Ethik der Freiheit« im Angesicht der fortschreitenden Fragilisierung dieses Versprechens, wie es mit so unter schiedlichen Phänomenen wie der weltanschaulich-kulturellen Globalisierung, dem Klimawandel und der 2008/09 offen ausgebrochenen Finanz- und Wirtschaftskrise verbunden ist. Im Blick auf diese konkreten Herausforderungen des Gedankens menschlicher Freiheit fällt der Akzent bei H. unter dem Titel der »Selbstaufklärung« (35 u. ö.) deutlich auf die zweite und dritte Reflexionsstufe. H. möchte den »eigentlichen Sinn von Freiheit« (312) herausarbeiten. Gerade dort sieht er den wichtigen Mehrwert eines Rückgriffs auf die christliche Theologie: »Mit ihrem spezifischen Verständnis von Freiheit kann sie im besten Falle zur Vertiefung einer menschengerechten Globalisierung beitragen, insbesondere jedoch eine Selbstaufklärung der Freiheit, die sich durch Willkürverhalten immer wieder selbst bedroht, bewirken« (35). Der Vorwurf des »me­thodische[n] Individualismus« (149), den H. gegen Rendtorff bei aller Wertschätzung erhebt, lässt sich insofern als Ausdruck der Abfolge zweier Generationen von Theologen interpretieren.
Auf der so bestimmten Folie einer kritischen Selbstaufklärung des Menschen und seiner Freiheits- wie Wirklichkeitssicht werden die inhaltlichen Leitgedanken von H.s Buch transparent, die an dieser Stelle nur skizzenhaft umrissen werden können. Ausgangspunkt ist die paulinische Rede von Freiheit, in der H. bereits den insgesamt seinen Entwurf prägenden Gedanken einer geistgewirkten Freiheit als »Geschehensereignis« (5 u. ö.) unter primärer Einbeziehung der menschlichen Affekte findet: »Geistgewirkte Freiheit ist also nicht mit dem Loskommen von den Affekten oder mit der Heilung von ihrer Einflussnahme und einer logosgemäßen Kontrolle aller Anreize in Verbindung zu bringen, sondern im Ge­genteil mit einer affektbezogenen Neuformierung des Menschen zu identifizieren.« (51) Es folgt ein gerade in seinen kritischen Akzenten inspirierender Blick auf Luthers Freiheitsschrift. Auch Melanchthon wird nicht unkritisch rezipiert. Sein entscheidender Beitrag zur Entwicklung eines spezifisch christlichen Freiheitsgedankens besteht laut H. in dessen pneumatologischer Einbettung: Freiheit kann nicht »in Wahlfreiheit und Willkür aufgehen« (112), sondern ist Ergebnis eines sinnstiftenden Geschehens, das sich in der »Transformation der Affekte in der Kraft des göttlichen Geistes« (113) manifestiert.
Melanchthon wird von H. auch dafür gelobt, dass er »dem Vertragsdenken viel Platz einräumt« (86). Das möchte auch H., und seine Überlegungen zu Vertrag und Versprechen gehören zu den eindrücklichsten und – jedenfalls im Rahmen der protestantischen Ethik – originellsten Passagen des Buches. »Thema einer Sozialethik als einer Ethik der Freiheit ist die Vertragskultur schlechthin.« (Ebd.) Auf der Basis dieses Satzes lassen sich die auf die traditionsgeschichtlichen Kapitel folgenden systematischen Gedanken und auch der Cantus Firmus der ethischen Folgerungen H.s gut beleuchten. Denn die Vertragskultur steht 1. für den Primat des Individuums: H. beginnt den mit »Konkretionen« überschriebenen Teil ganz bewusst mit der Gewissensfreiheit; im Zwischenmenschlichen wird die Argumentation mit einer dem menschlichen Handeln und Verhandeln normativ vorauslaufenden »göttlichen Ordnung« (262) ausdrücklich abgewiesen. Die Vertragskultur hat sich 2. als vorzugswürdiges Mittel gerade gegen ein (Miss-)Verständnis der Freiheit als individualistische Willkürfreiheit herausgebildet: »Der lebenszerstörende Aspekt des Übergriffs auf andere wird mit­tels der Verträge verhindert« (86); ein Vertrag ist »Ausdruck eines bewussten Verzichts im Zeichen der Freiheit« (261). Und 3. stehen Verträge als Versprechen und Wagnis (vgl. 261) für Mut, Offenheit und Dialogbereitschaft – affektive Haltungen, die von H. nicht nur im materiellen Teil seines Entwurfs als vorzugswürdige Äußerungsformen recht verstandener Freiheit gelobt werden, sondern denen er auch selbst gerecht zu werden versucht, indem er zwar aus christlicher Perspektive, aber im gut informierten, konstruktiven Gespräch mit Nachbarwissenschaften und anderen Religionen bzw. Weltanschauungen argumentiert, um das Ziel einer »globalen Ethik« (vgl. Untertitel) umzusetzen. Gerade so, in selbstkritischer Öffnung für das Säkulare, können Kirche und Kirchengemeinden »Sprachschulen der Freiheit« (387 im Anschluss an Ernst Lange) werden. Jedes der 21 Unterkapitel zu den einzelnen ethischen Be­währungsfeldern schließt in diesem Sinne mit einer Überlegung, wie Kirche konkrete Impulse zu einer menschengerechteren Ge­staltung des Lebens geben kann.
»Freiheit als ein Geschehensereignis und als ein Affektzustand bildet das säkulare, der menschlichen Gesellschaft inmitten ihrer Mitgeschöpflichkeit zugewandte Gesicht des lebendigen Christus. Dieses Gesicht des lebendigen Christus wach zu halten, zu präsentieren und in der Begegnung mit ihm zu leben, dazu ist eine theologische Ethik aufgerufen« (388). Mit diesen in ihrem deskriptiven wie normativen Gehalt sein Anliegen stimmig zusammenfassenden Sätzen beschließt H. – abgesehen von einem ausführlichen Anmerkungsteil und Literaturverzeichnis – seinen Entwurf.
Es dürfte aus der inhaltlichen Zusammenfassung schon deutlich geworden sein, dass der Rezensent H.s Buch mit großer Sympathie gelesen hat. Ethik wird hier als echte Teildisziplin der Systematischen Theologie betrieben. Man ist im Blick auf die generelle systematische Stringenz des Entwurfs an Schopenhauers Rede von dem einen Gedanken erinnert (wenn auch H.s »Gedanke« natürlich ein ganz anderer als der Schopenhauers ist). Die theologiegeschichtliche und argumentative Grundlegung wirkt zunächst konventionell im Rahmen der gängigen Rede zumal vom Protestantismus als Religion der Freiheit, enthält aber immer wieder einleuchtende Gedanken, die über den theologischen Mainstream hinausführen. Auch sprachlich ist das Buch gut gelungen; Druck-fehler halten sich in strengen Grenzen; ebenso sind kleinere sachliche Ungenauigkeiten vernachlässigenswert angesichts eines Unternehmens, das die »ganze Wirklichkeit« (163) in den Blick nimmt. Nur einen kritischen Punkt möchte ich herausgreifen: H. möchte mit seinem Buch nicht zuletzt die »Affekte« vor dem Forum der Vernunft retablieren. Doch was genau ist mit »Affekten« gemeint? H. setzt sie in seinem Buch mit durchaus Verschiedenem gleich. Wenn der Affektbegriff letztlich jede Form »mentaler Dispositionen« umgreifen soll, also auch Überzeugungen und erlerntes Wissen (so 418, Anm. 432), dann verliert er seine spezifische Semantik. Versteht man ihn aber enger – im Sinne eines erlittenen raptus wie bei Luther und in der Luther-Renaissance –, dann wird die Gestaltbarkeit der Affekte und ihre Beeinflussbarkeit durch dialogische Prozesse, auf die es H. doch ankommt, fragwürdig. »Das ›Handwerk der Freiheit‹ hat sich der Mensch erst mühsam anzueignen« (148). Wie passt dieser Satz in eine Ethik, die die Affekte als Exponenten einer passiven »Zueignung« der Freiheit (58) ins Zentrum rückt? Die positive Würdigung von Bieris »Handwerk der Freiheit« – im unausgesprochenen Widerspruch übrigens zu der Einschätzung von Bieris Buch durch andere protestantische Ethiker – ist nur ein Beispiel dafür, dass H. eigentlich über die simple Antithese zwischen Affektbetonung und Kognitivismus, die an anderen Stellen des Buches durchscheint, hinaus ist.