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Ausgabe:

Juli/August/2013

Spalte:

864–866

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Eurich, Johannes, u. Andreas Lob-Hüdepohl[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Inklusive Kirche.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2011. 264 S. m. Abb. u. Tab. = Behinderung – Theologie – Kirche, 1. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-17-022028-7.

Rezensent:

Gottfried Adam

Am 13. Dezember 2006 verabschiedete die Generalversammlung der UN die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Diese Behindertenrechtskonvention wurde im März 2009 vom Deutschen Bundestag ratifiziert und ist damit auch für Deutschland rechtsverbindlich geworden. Darin spielt der Leitgedanke der »vollen und wirksamen Teilhabe und Inklusion« von Menschen mit Behinderungen eine zentrale Rolle. Dabei ist Inklusion mehr als die bestmögliche Integration, weil Behinderung in eine umfassende gesellschaftliche Perspektive im Zusammenhang aller Merkmale von Differenzierungen menschlicher Existenz gerückt wird. Damit wird die Wertschätzung von Verschiedenheit zu einem grundlegenden Prinzip für das Gemeinwesen. Wolfhard Schweiker formuliert in seinem Beitrag »Inklusive Praxis als Herausforderung praktisch-theologischer Reflexion und kirchlicher Handlungsfelder« zu Recht, dass inklusive Praxis sich bemühen muss, »die Lebensbedingungen so zu gestalten, dass jede Person in ihrer unverwechselbaren Einzigartigkeit unabhängig von ihren Fähigkeiten und Unfähigkeiten als vollwertiges Mitglied (full mem­bership) wahrgenommen und so unterstützt wird, dass niemand aus der Gemeinschaft herausfällt. Ausgrenzung wird von Anfang an vermieden.« (135) Bei der Inklusion ist jedes Differenzierungsmerkmal (Alter, Behinderung, Geschlecht, Religion, besondere Bedürfnisse, Kultur, sozio-ökonomisches Milieu) im Blick.
Mit diesem Verständnis von »Inklusion« ist eine veränderte Sichtweise auf Behinderung vollzogen worden, die einen fundamentalen Perspektivenwechsel zur Folge hat. Es geht nicht mehr darum, dass der Mensch mit einer Behinderung in die Gesellschaft integriert wird, sondern dass die Gesellschaft sich so verändert, dass allen Menschen eine volle Teilhabe ermöglicht wird. Dieser Paradigmenwechsel hat für Diakonie und Kirche, aber auch für die theologische Reflexion Konsequenzen von weitgehender Art. Mit dem Sammelband »Inklusive Kirche« wird von den Herausgebern Johannes Eurich, Direktor des Diakoniewissenschaftlichen Institutes der Universität Heidelberg, und Andreas Lob-Hüdepohl, Professor für Theologische Ethik an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen in Berlin, eine neue Schriftenreihe zum Themenbereich »Behinderung-Theologie-Kirche« eröffnet, die sich den hier anstehenden Fragen – erfreulicherweise in ökumenischer Perspektive und Zusammenarbeit – zuwendet. Ziel der neuen Buchreihe ist es, angesichts der neuen Entwicklungen eine selbstkritische Vergewisserung der eigenen Tradition vorzunehmen, um unter Hin­-terfragung eigener theologischer Positionen »das Potential christlicher Gottesrede für die lebensdienliche Arbeit mit und für Menschen mit Behinderung in Kirche und Gesellschaft fruchtbar zu machen«, dabei »den Anschluss an die Erkenntnisse neuerer sozialwissenschaftlicher Forschung zu gewinnen« und schließlich »die Veränderungen in diakonisch-caritativen Handelsfeldern der Ar­beit mit behinderten Menschen einer wissenschaftlichen Reflexion und Grundlegung aus theologischer Perspektive« zu unterziehen (7). Gewiss, ein anspruchsvolles, gleichwohl theologisch und gesellschaftspolitisch notwendiges Unterfangen.
Die Beiträge des Bandes sind unter drei Aspekten zusammengestellt worden: Wandel des Verständnisses von Behinderung, theologische Reflexionen zu Behinderung und Inklusion sowie die inklusive Praxis in Kirche und Diakonie.
Im ersten Teil geht es um »Behinderung – prekäre Lebenslagen als Herausforderung für Theologie und Kirche« (9–79). Hier ist der Wandel in der Wahrnehmung von Menschen mit Behinderun-gen in begriffsgeschichtlicher, soziologischer, behindertenpädago­gischer sowie juristischer (UN-Menschenrechtskonvention) Perspektive Thema.
Der zweite Teil »Theologie – Reflexionen über das Widerfahrnis Gottes als Forderung nach Inklusion« (81–130) wendet sich theo­logischen Fragestellungen zu. Manfred Oemings Ausführungen zum Umgang mit Behinderung im Alten Testament sind aufschlussreich. Dietmar Mieth zeigt einleuchtend, wie aus theologisch-ethischer Sicht die menschliche Anerkennung, die auf Ge­genseitigkeit beruht, und die unbedingte Annahme durch Gott zueinander »passen«. Er stellt heraus: »In der Anerkennung liegt ein Ja, das die Distanz der gleichen Würde wahrt; in der Annahme liegt ein Ja, das die Nähe einer Geborgenheit zum Ausdruck bringt« (126).
Im dritten Teil »Kirche – Inklusive Praxis des Gottesvolkes« (131–261) richtet sich der Blick auf die inklusive Praxis und deren Handlungsfelder. Exemplarisch werden u. a. Situationen aus Seelsorge, Familienpastoral, Trauer- und Sterbebegleitung, Gottesdienstpraxis, Konfirmandenarbeit, Schule und Wohnprojekten thematisiert. Im ersten Beitrag dieses dritten Teils werden von W. Schweiker in wünschenswerter Deutlichkeit die Herausforderungen formuliert, die sich aus dem epochalen Blickwechsel ergeben, dass nicht mehr die eingeschränkte Funktionsfähigkeit einer Person zentral ist, sondern die Frage, wie Teilhabe in gesellschaftlich relevanten Lebensbereichen gelingen kann. Dabei kommen nicht nur Aufgaben für die kirchlichen Handlungsfelder, sondern ebenso auch für die wissenschaftliche, praktisch-theologische Reflexion in den Blick (137–140). Es ist durchaus beschämend und aufschlussreich, dass man in den Sachregistern der praktisch-theologischen Standardwerke in der Zeit von 1995 bis 2011 Stichworte wie Inklusion, Heilpädagogik, Sonderpädagogik vergeblich sucht.
Inklusion stellt eine epochale Herausforderung für theologische Reflexion sowie kirchliche und diakonische Praxis dar. Im religionspädagogischen Bereich wurde die Frage der Integration von Menschen mit Behinderungen durch die kooperativen Bemühungen von evangelischen und katholischen Praktikern und Theoretikern im Rahmen der »Würzburger Religionspädagogischen Symposien« (1986–1998) und des »Forums für Heil- und Religionspä­dagogik« (ab 2000) in den letzten Jahrzehnten thematisiert und vorangebracht (vgl. dazu auch das »Handbuch der Integrativen Religionspädagogik«, hrsg. von Annebelle Pithan u. a., Gütersloh 2002). Freilich ist jetzt der Weg von der Integration zur Inklusion zu vollziehen. Auch die übrigen Disziplinen der Theologie, insbesondere die Praktische und die Systematische Theologie, sind in dieser Frage künftig in einem eminentem Maße gefordert. Denn Inklusion ist nicht als Sonderthema abzuhandeln, sondern stellt ein Querschnittthema dar, das zu den verschiedensten theologischen Themen »querliegt«. In gleicher Weise haben die christlichen Kirchen das Thema für alle kirchlichen Handlungsfelder durchzubuchstabieren. Die »inklusive Kirche« ist zurzeit ebenso wenig Realität wie die »inklusive Gesellschaft«. Es handelt sich dabei um eine Vision. Diese bedarf allerdings der kontinuierlichen Arbeit in kleinen Schritten, um sich ihr anzunähern. Es ist den Herausgebern und den kompetenten Autorinnen und Autoren des Bandes »Inklusive Kirche« zu danken, dass sie der theologischen Wissenschaft und der kirchlichen Praxis unmissverständlich deutlich gemacht haben, welche Aufgaben anstehen.