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Ausgabe:

Juli/August/2013

Spalte:

862–864

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Breitsameter, Christof

Titel/Untertitel:

Nur zehn Worte. Moral und Gesellschaft des Dekalogs.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder; Fribourg: Academic Press Fribourg 2012. 237 S. = Studien zur theologischen Ethik, 134. Kart. EUR 50,00. ISBN 978-3-451-34144-1 (Verlag Herder); 978-3-7278-1720-5 (Academic Press Fribourg).

Rezensent:

Tilman Fuß

Die Zehn Gebote des Alten Testaments sind ein Grundtext und ständiger Bezugspunkt der ethischen Unterweisung des Christentums im schulischen wie im kirchlichen Unterricht bis heute. Öffentliche Äußerungen der Kirchen zur Sozialethik nehmen auf sie Bezug, so insbesondere die vom Rat der EKD und von der Deutschen Bischofskonferenz gemeinsam veröffentlichte Erklärung »Grundwerte und Gottes Gebot« aus dem Jahr 1979. Auch wissenschaftlich-theologische Darstellungen christlicher Ethik sind vorgelegt worden, die sich an den Zehn Geboten orientieren und deren ethischen Gehalt für die Gegenwart zu aktualisieren suchen (z. B. von Traugott Koch oder von Hermann Deuser).
Das zu besprechende Buch des Bochumer katholischen Moraltheologen Christof Breitsameter stellt nicht einfach einen weiteren dieser Versuche dar, eine heutige christliche Ethik aus dem Dekalog zu entwickeln. Stattdessen tritt der Vf. einen Schritt zurück und liefert die Prolegomena zum aktualisierenden Umgang mit diesem alttestamentlichen Text nach. Er formuliert die hermeneutischen Fragen, die zu bedenken sind, bevor der Dekalog heute als Quelle ethischer Normen in Anspruch genommen werden kann, als historisch-sozialwissenschaftliche Fragen. In Anlehnung insbesondere an die Gesellschaftstheorie Niklas Luhmanns fragt er nach dem Zusammenhang von Gesellschaftsstruktur und normativer Se­mantik.
Dieser soziologische Akzent – angedeutet im Untertitel des Buches – ist die Besonderheit der Abhandlung. Dabei handelt es sich anscheinend auch um das Programm der Art von Moraltheologie oder christlicher Ethik, wie es dem Vf. vorschwebt. Hierauf deutet die häufige Bezugnahme auf des Vf.s eigene Dissertation »Identität und Moral in der modernen Gesellschaft. Sozialwissenschaften und theologische Ethik im interdisziplinären Gespräch« (2003) hin.
In umfassender Aufnahme der gegenwärtigen exegetischen Dis­kussion (Boecker, Schmidt, Crüsemann, Hossfeld, Graupner, Otto, Levin u. v. m.) werden schon im Dekalog selbst (bzw. in seinen beiden Fassungen in Ex 20 und Dtn 5) Spuren eines Wandels der Gesellschaftsstruktur im Verlauf seiner Entstehung und Überlieferung aufgezeigt. Es ist dies der Übergang von einer einfachen segmentären, d. h. durch überschaubare und reziproke soziale Beziehungen geprägten Gesellschaft zu einer komplexeren stratifizierten, d. h. durch differenzierte Zuständigkeiten und Hierarchien bestimmten Gesellschaft. Schon dieser sozialstrukturelle Wandel habe auch einen Wandel der moralischen Semantik nach sich gezogen. So sei beispielsweise im Elterngebot der Akzent von der Traditionspflege zur materiellen Versorgung der alt gewordenen Eltern verschoben worden (92–97).
Möglichkeiten einer normativen Bedeutung der einzelnen Ge­bote in der heutigen, nochmals strukturell veränderten Gesellschaft werden jeweils in einer kurzen Schlussüberlegung in den Einzelabschnitten von Kapitel VI ausgelotet oder auch nur angedeutet. Hier, wo der Moraltheologe und Sozialethiker auf sein ur­-eigenes Gebiet gelangt, finden sich interessante Gedanken, stellen sich aus der Sicht des Rezensenten aber auch kritische Rückfragen. Um noch einmal beim Elterngebot zu bleiben: Hier bietet der Vf. den vertragstheoretischen Gedanken eines phasenverschobenen Freiheitstauschs an (der an ähnliche Überlegungen Otfried Höffes erinnert, ohne dass dieser zitiert würde), um dem im 4. Gebot enthaltenen Anreiz (»damit es dir wohl ergehe und du lange lebst auf Erden«) zu entsprechen (98 f.). Der bedeutsame Unterschied aber, dass es sich im Dekalog um Gebote Gottes, also um heteronome Aufforderungen handelt, während die neuzeitlich-naturrechtliche Tradition des Vertragsgedankens gerade die Überwindung von religiöser Heteronomie anstrebt, wird nicht thematisiert. Die moderne Frage, wozu es Normen braucht, die sich als göttliche Gebote präsentieren, bleibt damit offen. Thematisiert wird sie allenfalls aus Anlass des Sabbatgebots als Frage nach dem religiösen Sinn der Moral: Religion habe die »Aufgabe, den Unbedingtheits­charakter der Moral auch unter der Bedingung, dass Menschen sich selbst und gegenseitig die Regeln geben, denen sie unterworfen sein wollen, zu bewahren« (92). Diese funktionale Umdeutung der Form göttlicher Gebote setzt freilich eine Kritik religiöser He­teronomie voraus, von der die Zehn Gebote selbst zunächst betroffen sind.
Fragwürdig erscheint vor dem Hintergrund entlastender moralischer Einsichten der Moderne auch die Aktualisierung des 6. Ge­bots. In kulturpessimistischer Einschätzung heutiger Ehemoral will der Vf. Trennung und Ehescheidung theologisch überhöht als »ein Vergehen an den als heilig verstandenen Grundlagen des Lebens selbst« verstanden wissen (118). Hier scheint der von den Aufklärern kritisierte Gedanke besonderer Pflichten gegen Gott wiederkehren zu sollen.
Zur Anlage des Buches ist kritisch zu sagen, dass der Gedankengang besonders an den Kapitelübergängen schwer nachzuvoll-ziehen ist. So bleibt die Weiterverwertung von schon in sich für Nichtsoziologen schwer verständlichen sozialwissenschaftlichen Einzelreferaten für den Fortgang der Abhandlung unklar. In irritierender Weise wird auch nicht erläutert, inwiefern im vorletzten Kapitel IX mit Nächstenliebe, Feindesliebe und Goldener Regel »Anwendungen« des Dekalogs thematisiert werden.
Der Epilog stellt allgemeine Aussagen zum Problem religiös begründeter Moral in einer säkularen Gesellschaft ans Ende – zum Teil wörtliche Wiederholungen aus Kapitel VIII.7 – und beantwortet seine Frage »Was bleibt vom Dekalog?« damit höchstens zum Teil. Nach Meinung des Rezensenten hat das mit einer interessanten Fragestellung und einem vielversprechenden interdisziplinären Zugang beginnende Buch irgendwie seine Fragestellung und sein Ziel verloren und bleibt ohne klar benennbare Hauptaussagen. Was die heutige Ethik vom Dekalog hat, erscheint nach der Lektüre dieses Buches weiterhin ungeklärt.