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Ausgabe:

Juli/August/2013

Spalte:

860–862

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Rosenau, Hartmut

Titel/Untertitel:

Vom Warten – Grundriss einer sapientialen Dogmatik. Neue Zugänge zur Gotteslehre, Christologie und Eschatologie.

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2012. 6, II, 220 S. = Lehr- und Studienbücher zur Theologie, 8. Kart. EUR 19,90. ISBN 978-3-643-11518-8.

Rezensent:

Walter Sparn

Angesichts der »geschichtlichen Situation der Gottesferne« und der »fundamentalen Krise« der Dogmatik in ihr entwickelt Hartmut Rosenau eine »sapientiale Dogmatik«, die sich vor allem durch »Warten« auszeichnet – im Heideggerschen Doppelsinn: »Wartung«, kritische Pflege der Lehrbestände, und »Erwartung« ihrer (jetzt unzugänglichen) Wahrheit in der Zukunft möglicher Gottesnähe. Dem entspricht »gelassen-gespanntes« Warten, konstruktive Skepsis, kurz: »Weisheit« (12.50.99.189 u. ö.).
Die Einleitung (1–12) positioniert dies im Gegenüber zum mo­dern-szientistischen Anspruch des Systematischen (im Anschluss an W. Janke), der in der Theologie aus dem lebendigen Wort den »präzisen«, der hörenden Kommunikation jedoch verschlossenen Be­griff mache und die logisch-wissenschaftlichen Weltzugänge von poetisch-narrativen und religiös-mythischen abtrenne. Die biblische (und außerbiblische) Weisheit dagegen verbindet das und ist imstande, in der Erfahrung der Gottesferne sich apodiktischen Urteilens und verfügender Gottesrede zu enthalten– in Gottesfurcht! In dieser Tradition »wartend« bewegt sich der Vf. zwischen negativer Theologie, Existenztheologie und Pragmatismus (10 f.).
Kapitel I (15–38) bereitet den sapientialen »Standpunkt« (sic!) vor, indem es auf den dauerhaften Streit zwischen dem »Gott der Philosophen« und dem »Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs« und auf die Zweideutigkeit sowohl des »von sich aus (natura sua, physei)« (22.55.73.92 u. ö.) zu Erkennenden als auch der »Offenbarung« (25) eingeht. Der Vf. zielt auf Integration: »Theologie ist verantwortliche Rede von und vor Gott im Spannungsfeld zwischen Apologetik und Fideismus, natürlicher und geoffenbarter, philosophischer und christologischer Erkenntnis« (27). Das »Systematische« der sapientialen Theologie ist nicht das »System« (30 ff.), sondern das Ganze der Theologie, das jede Disziplin in sich enthält (16). Es besteht im »konsequenten und widerspruchsfreien, traditions- wie selbstkritischen Denken angesichts des noch immer ungelösten Historismusproblems« (38). Ob dieses Problem ›gelöst‹ werden oder als Faktum akzeptiert werden soll (vgl. 4.103.190)?
Die Pole jener Spannung profilieren die Kapitel II und III. »Reichweite und Grenzen natürlicher Theologie« (41–100) behandelt deren »Grundformen«. Trotz aller Einwände anerkennt der Vf. erstens den vorläufigen oder nachträglichen Sinn der Gottesbeweise, vor allem des consensus gentium (resp. credentium), der als »abduktive Hypothese« auf Gottesgewissheit überhaupt zielt (52). Das ontologische Argument führt auf einen deus absconditus (60); am kosmologischen stellt der Vf. das (weisheitsnahe) tagmatische Denken heraus (68). Der unzureichende moralische Beweis Kants (70 ff.) leitet zweitens zur anthropologischen Reflexion (75 ff.) über– zur Sorge des Menschen um sein Wesen und seine Bestimmung, d. h. um sein »Heil« (das mit »Einheit und Identität« gleichgesetzt wird, 26.43.79 u. ö.). Mit dem späten Fichte, dem späten Schelling, Schleiermacher und Kierkegaard statuiert der Vf., dass der »soteriologisch ohnmächtige Mensch«, um sich zu selbst verstehen, »notwendig eine höhere Macht vorausdenken muss, die das Selbstbewusstsein ›ge­setzt‹ hat« (80; nicht transzendentalistisch, 50 f.).
Sapientiale Dogmatik setzt also bei »Verzweiflung« ein, sieht den gottebenbildlichen (unverfügbaren) Menschen aber unterwegs zwischen Gottesnähe unter dem Segen Gottes und Gottesferne aufgrund seiner sündigen Verkehrung der Schöpfungsordnung (86). Der Vf. nimmt drittens die kosmologischen und ökologischen Aspekte einer natürlichen Schöpfungstheologie ernst, verzichtet je­doch auf metaphysische Ansprüche zugunsten eines weisheitlichen »Erfahrungswissens«, das der Grenze menschlichen Freiheitsspielraums bewusst ist, das sich aber zugleich an die segensreichen Vorsehung Gottes hält und an ihr misst (»Schöpfung und Geschöpflichkeit«; 87 ff.). Freilich kennt solches Erfahrungswissen keinen »persönlichen« Gott: Na­türliche Theologie verweist »dialektisch« auf eine Theologie der Offenbarung – so wie diese von sich her zu jener »übergeht« (55 f.100).
Kapitel III exponiert die »Möglichkeiten und Aporien einer Offenbarungstheologie« (101–139). Eigentlich gebe es nur Offenbarungstheologie, weil menschliche Erkenntnis so oder so »von Gott her« sei, andererseits nehme die revelatio specialis – die personale Selbsterschließung Gottes in Jesus Christus durch seinen Geist – Gott auch wieder zurück in Unverfügbarkeit und Verborgenheit: Christliche Wahrheitsgewissheit bleibt immer angefochten (103 ff.). Auch die dogmatische Christologie kann nicht exklusiv eine Offenbarungstheologie begründen: Der vieldeutige Jesus von Nazareth kann auf wiederum vieldeutige Weise als der Christus erkannt werden – wenn es der Heilige Geist bewirkt; aber auch er bleibt vieldeutig ungewiss (109 ff.). Das Schriftprinzip verweist seinerseits auf die natürliche Theologie: Der Schriftkanon würde, als Fundus von dicta probantia (123!) genommen, zirkulär und »apokryph« (121 ff.). Auch die (stets vorläufige) Wertung der Offenbarungsansprüche an­derer Religionen beruht auf der »an­thropologischen Frage nach dem angemessenen Selbstverständnis des (religiösen) Menschen angesichts der soteriologischen Macht oder Ohnmacht« (129 ff.).
Kapitel IV gibt drei Beispiele sapientialer Dogmatik. »Gottesferne und Personalität« (143–170) will sich angesichts des Theodizeeproblems von der konkreten Vorstellung Gottes als Person lösen, ohne diese völlig zu diskreditieren. Nach Analyse der Positionen Spinozas, Fichtes, Schellings und Schleiermachers schlägt der Vf. vor, menschliche Personalität als adäquates »Schema«, als »weise Regel« zum Finden angemessener Metaphern, Symbole, Bilder oder Begriffe für Gott zu gebrauchen (169 f.). Auch in »Christus absconditus und der Geist als Christus praesens« (171–194) rekurriert der Vf. auf Schelling und Kierkegaard, empfiehlt aber weitergehend, mit christologischen Figuren als »Chiffren« ergebnisoffen umzugehen (190 f.). Der »tagmatische Effekt« des Geistes, den Menschen in »schöpfungsgemäßes Maß und Wesen« zu bringen (193 f.), ist als »Essentifikation« menschlicher Existenz auch das »zuletzt Erwartete« (195–206). Die offene Haltung des Wartens verzichtet auf Eindeutigkeit zugunsten von Erwartungen, die in gegenwärtigen Heilserfahrungen gründen und in einer weisheitlichen Verbindung von logos, mythos und epos artikuliert werden können«: Statt von »eschatischem Heil« spricht der Vf. bescheiden von providentiellem »Segen« (195 f.).
Diese Fundamentaltheologie (29.50 f.76) stellt sich konsequent system- und dogmenkritisch dar, auch wenn sie in manchem unklar bleibt, auch terminologisch (»Dogmatik«, »exklusiv«/»maßgeblich«). Epistemologische Probleme (»Wahrheit«) werden nur am Rand oder gar nicht (idem per idem) diskutiert – vielleicht, weil der Vf. Weisheit seit jeher in »Bildungsanstalten« kultiviert sieht (12.97 ff.). Er­staunlich ist, dass er von einer festgestellten [!] soteriologischen Ohnmacht des Menschen (191), ja von einem »vorgegebenen Glauben« (171), ausgeht bzw. die Diagnose der »Gottesferne« undifferenziert übernimmt. Und warum bedient sich der Vf., der oft litera-rische Zeugnisse anruft, nicht der poetischen Formen, durch die seine sapientiale Theologie als »ästhetische Theologie« charakte-risiert ist, die in Aphorismen, Romanen, Geschichten »das Glaubensleben um­kreis(t)«, statt es festzustellen (35.86.136)? Gewiss, kluge Aphorismen sind unendlich viel schwieriger als die klügste Dogmatik.