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Ausgabe:

Juli/August/2013

Spalte:

856–858

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Kasper, Walter Kardinal

Titel/Untertitel:

Barmherzigkeit. Grundbegriff des Evangeliums – Schlüssel christlichen Lebens.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2012. 252 S. Geb. EUR 22,00. ISBN 978-3-451-30642-6.

Rezensent:

Katharina Sauer

Mit seiner Reflexion des Begriffs Barmherzigkeit führt Walter Kardinal Kasper in einen längst überfälligen theologischen Diskurs ein. Barmherzigkeit ist eines der großen biblischen Themen, fand jedoch in systematischen Überlegungen bislang kaum Beachtung und somit ergänzt K. mit diesem Buch auch sein eigenes, für die heutige Dogmatik grundlegendes christologisches und theolo­gisches Werk.
K.s Ausgangspunkt ist anthropologisch, er stellt die aktuelle Situation des Menschen an den Anfang seiner Ausführungen. Dabei zeigt er das tiefe Bedürfnis des Menschen nach Barmherzigkeit auf, welches gerade durch die Schrecken der totalitären Systeme, der Kriege und sozialen Ungerechtigkeiten des 20. und beginnenden 21. Jh.s als »Schrei nach Barmherzigkeit« (11) wahrgenommen wird. Neuzeitliche Antworten auf die sich dabei auftuende Theodizeefrage münden oftmals in der Verneinung Gottes, dem Atheismus. Dieses nimmt K. bewusst in den Blick und geht bei einer ersten Annäherung an das Thema auf philosophische Denkansätze ein, die er durch eine religionsgeschichtliche Spurensuche erweitert. Schon bei Aristoteles findet sich eine positive Sicht des Mitleidhabens mit dem unverschuldeten Leid eines anderen. Augustinus wie auch Thomas verweisen darauf, dass Mitleiden nicht nur ein menschlicher Affekt ist, vielmehr strebt Mitleid nach der Behebung des Leidens. Dies ist in christlich-praktischer Umsetzung in der schon früh beginnenden Armen- und Krankenfür­sorge ablesbar. Postmoderne Philosophen geben zu dem Themen­bereich wichtige Impulse: Jacques Derrida mit seiner Kritik am Begriff der Gerechtigkeit und der Reflexion des Verzeihens, Paul Ricœur, der einen Gerechtigkeitsbegriff entwirft, der über die »Logik des Tauschens« (38) hinausgeht und die Liebe einschließt, oder die »Phänomenologie des Schenkens« (39) eines Jean-Luc Marion können beispielhaft genannt werden. Hier wird philosophisch das Feld bereitet, das »die christliche Rede von der Barmherzigkeit in ihrem humanen Kern als eine sinnvolle und hilfreiche oder zumindest als eine diskussionswürdige Antwort auf die Situation des Menschen« erweist (39). Die Goldene Regel als gemeinsamer ethischer Bestand aller Weltreligionen kann zum Dialog zwischen den Religionen und Kulturen ermutigen, schärft jedoch auch den Blick auf den spezifisch christlichen Begriff von Barmherzigkeit und Vergebung.
Mit zwei weiteren Kapiteln führt K. in die biblische Botschaft der Barmherzigkeit ein. Gott erweist sich schon von Beginn der Schöpfung an als der Barmherzige. Das gesamte Alte Testament ist durchzogen von Zeugnissen der Barmherzigkeit Gottes. K. sieht die Barmherzigkeit als den Ausdruck des göttlichen Wesens. In den Evangelien verkündet Jesus die Botschaft der Barmherzigkeit Gottes. Schon die Kindheitserzählungen zeigen Jesus als den Erfüller der alttestamentlichen Heilsverheißungen. Jesus selbst verkündet das Reich Gottes und somit die Botschaft der göttlichen Barmherzigkeit. Er wendet sich den Kranken und besonders den Sündern zu, treibt Dämonen aus. Mit dem Gleichnis vom barmherzigen Sa­mariter gibt er ein Beispiel des erbarmenden jesuanisch-göttlichen Verhaltens. Das Gleichnis vom barmherzigen Vater zeigt ergreifend den erbarmenden Umgang Gottes mit der menschlichen Schwachheit. Gott richtet den umkehrenden Menschen wieder auf und gibt ihm seine verlorene Würde zurück. Deutlich treten bei Lukas und Paulus die Pro-Existenz Jesu, sein stellvertretendes Leiden für den Sünder als die Basis neutestamentlicher Theologie heraus.
In der systematischen Fortführung seiner Überlegungen, in die er die theologische Tradition einbezieht, beschreibt K. die Barmherzigkeit als für den Menschen wirksamste Eigenschaft der Liebe Gottes. Sie muss somit als die »grundlegende Eigenschaft Gottes« (95) bezeichnet werden. In der sich anschließenden trinitarischen Reflexion zeigt K. diesen wesentlich heilsökonomischen Aspekt der Barmherzigkeit als Spiegel des innertrinitarischen Seins auf. »Nur wenn Gott in sich selbst Liebe ist, ist seine Selbstoffenbarung unableitbar freies, ungeschuldetes Geschenk seiner Liebe.« (98) Diese innertrinitarische Liebe ist eine Liebe, die den anderen will und sich selbst zurücknimmt. Die für den Menschen heilswirksame Selbstoffenbarung Gottes erweist sich in der Kenose, der Menschwerdung des Sohnes und unüberbietbar in seiner Selbstentäußerung und Selbsthingabe am Kreuz. Möglichkeit des Teilhabens am – und für den Menschen wirksam werden des – Erlösungsgeschehen ge­schieht im Heiligen Geist. »Gott lässt uns in seiner Barmherzigkeit nicht nur in sein Herz hineinschauen, er schafft uns im Heiligen Geist Raum an seinem Herzen und in seinem Herzen.« (99) Dieses Ereignis ist nicht geschichtlich punktuell zu verstehen, es zeigt sich hier der universale Heilswille Gottes. Dabei weicht er der Frage nach der Freiheit des Menschen innerhalb des Erlösungsgeschehens nicht aus.
Ausdrücklich bezieht K. die geschichtlich gewachsene Herz-Jesu-Frömmigkeit in seine systematischen Ausführungen ein. Für die heutige Zeit ist die in der Herz-Jesu-Verehrung liegende Botschaft der Barmherzigkeit Gottes durch die Visionen einer Schwes­ter Faustina und das Engagement von Johannes Paul II. aktualisiert worden. »Im durchbohrten Herzen seines Sohnes zeigt uns Gott, dass er bis zum Äußersten ging, um im freiwilligen Todesleiden seines Sohnes das unermessliche Leiden der Welt und unsere Kaltherzigkeit und Lieblosigkeit auszuleiden und sie zu erlösen.« (119) Im Auferstehungsglauben liegt die christliche Hoffung auf einen Gott, der sich dem unschuldig Leidenden zuwendet und sich seiner erbarmt. Dies fordert den Christen zum Handeln heraus, aktiv Zeuge der Barmherzigkeit Gottes zu sein. So sieht K. in der Liebe und der Feindesliebe die wesentlichen Handlungsoptionen des Christen. Aufgabe der Kirche ist es, die Barmherzigkeit Gottes zu verkünden. Die Sakramente, vornehmlich das Bußsakrament, er­weisen sich für den Menschen als »Sakramente der Barmherzigkeit Gottes« (161). Die aus einem solchen Verständnis von Barmherzigkeit erwachsende christliche Haltung sollte gesellschaftlich wirksam werden. Daher plädiert K. in Weiterführung der kirchlichen Soziallehre für eine Kultur der Barmherzigkeit.
In seinen kurz gehaltenen Ausführungen zum Begriff Barmherzigkeit bietet das Buch wichtige neue theologische Impulse, die gerade in den systematischen Überlegungen zu Vertiefung und Weiterführung motivieren. Barmherzigkeit ist für Christen ein hochaktuelles Thema, da es den Kern des christlichen Glaubens betrifft. Dem räumte auch Papst Franziskus in seinem ersten Angelusgebet einen zentralen Platz ein, indem er dazu aufrief, auf die Vergebung Gottes zu vertrauen und untereinander Barmherzigkeit zu üben.