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Ausgabe:

Juli/August/2013

Spalte:

852–854

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Wasser, Harald

Titel/Untertitel:

Vom Weltbild der Rhetorik, vom Buchdruck und von der Erfindung des Subjekts. Ein medientheore­tischer Essay zum sozialen Wandel.

Verlag:

Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2011. 295 S. Geb. EUR 29,80. ISBN 978-3-942393-24-9.

Rezensent:

Klaus Otte

Dieser »medientheoretische Essay zum sozialen Wandel« von Harald Wasser ist eine durchgehend auf rationaler »Folie« eloquent argumentierende Studie, die wie eine herkömmliche wissenschaftliche Arbeit mit beeindruckender Kenntnisfülle und zahlreichen Fußnoten erscheint. Der reiche Apparat auf fast »einer jeden« Seite vertieft die spannende Dichte der zwingend rationalen Gedan-kenführung, hilft den wissenschaftlich systematischen Tenor des Buches hervorzuheben, stringent über die interessanten Kapitelüberschriften hinweg durchzuhalten und scheint ein wünschbares Literaturverzeichnis ersetzen zu sollen, das den »geneigten« Leser beim ersten »Stöbern« unterstützen könnte.
Mit der übergreifenden Gewalt eines »Druckwerks« – in der Sprache W.s – imponiert sich formal eine prinzipiell dreigliedrige hermeneutische Epochenbildung innerhalb der hauptsächlich abendländisch-europäisch observierten Mediengeschichte: 1. Das »Weltbild der Rhetorik«, 2. Der gravierende Einfluss des »Buch-drucks« und 3. Die sog. »Erfindung des Subjekts«. Sie werden von W. unter dem Gesichtspunkt des »sozialen Wandels« in einer je eigentümlichen medialen Phasenbildung unterschieden und argumentativ medientheoretisch in Zusammenhang gebracht. In einer ers­ten Übersicht könnte man bei »Rhetorik« vom Vorherrschen des Mündlichen, beim »Buchdruck« von technisch abstraktem Macht­ergreifen und in der »Subjektphilosophie« ( Subjekt im Sinne des Verfassers) von neuzeitlichem Wiederaufleben früherer sozialer Verstehenshorizonte sprechen.
Antike und Mittelalter hermeneutisch erschließende Rhetorik einerseits und Neuzeit eröffnender Buchdruck Gutenbergs andererseits lassen in gegenseitiger Wechselwirkung den Subjektbegriff entstehen, der den zur Moderne führenden sozialen Wandel mit herbeigeführt hat. Von außen erwirkte Instabilität und inneres Oszillieren mittelalterlicher Rhetorik seien durch die abstrahierende Stabilität des Buchdrucks zu dem stabilen inneren »Bewusstsein« und leidenschaftslosen Urteilen der »Figur des Subjekts« ge­worden, das angeblich so »bis ins späte Mittelalter nicht einmal« bekannt gewesen sei (42). Damit sind implizit fast automatisch die das Opus übergreifenden Fragen nach Leser und Autor, nach Transzendenz und Gott, und schließlich auch nach der inneren Logik jeweiliger Texte mit in die Thematik dieses Buches geraten. Letztere im ursprünglichen Sinn fällt indessen in der reflexiven Rechenschaft etwas dünn aus.
An seiner Interpretation reformatorischer Hermeneutik entfaltet W. seine Sicht vom Denkansatz Luthers und fordert damit den kritischen Leser – vermutlich ungewollt – zur Frage nach dem Wesen der inneren Textlogik heraus, die in dem Gewebe der jeweiligen Textüberlieferungen ontisch selbstwirkend konstitutiv bzw. implizit kreativ zu ermitteln ist: Sola scriptura, sola fide, sola gratia (46) signalisieren und meinen eigentlich solche erfragten Sichtweisen. Eine quantifizierend rationale Wortbetrachtung in der Verwertungsweise des rein sozial-technischen Buchdrucks indessen verdrängt und entwertet – im Schreibcomputer des Druckers – die transzendental-dynamische Kraft der sprachimmanenten Lo­gik, welche seit Alters Überliefertes und wahre Tradition erst zum je aktuellen Sprachereignis einer geschehenden Ansage macht, wie es sich auch in der Reformation in den meisten Fällen ereignet hat.
Mit der Ausblendung kreativer Transzendenz z. B. im biblischen Kriterium logos – letzteres auch in seiner sprachlogisch und grammatikalisch reflexiven praktischen Anwendung – und in der hermeneutisch-dialogischen Logik entzieht W. dem reformato­rischen Geistes- und Glaubensvollzug die Nahrung und macht somit das eigentlich reformierende Wortgeschehen zu einem linguistisch-mechanisch dürren Konstrukt definierbarer Modalitäten und funktionierender Wörter. Besonders kritisch wird dieser – wissenschaftlich zutiefst nachhaltige und folgenreiche – empirisch definierende Quantifizierungsprozess, wenn auch der solus Chris­tus (46) sich zu einem Abstraktum verwandelt und der Zirkel von Voraussetzung und Vollzug des Glaubens in sich unstimmig wird, weil der eigentliche »Logos« als »allein aus Gnaden« – aktuell vitalisierend – extrahiert ist.
Die Reformation ist nach W. eben der tendenziellen »Verlagerung ins Abstrakte, d.h. vor allem ins ›Unsinnliche‹, ›Innere‹« ge­folgt (47): »Sinnlich verarmte, einsame, stumme« Rezeption (52) hätte den rhetorisch geprägten multimedialen Menschen zu einem autonomen »Bewusstsein« verwandelt – entfernt von dem Autor »Gott«, der sich ja nach der anfänglichen Schöpfung ohnehin zurückgezogen hätte. Luther hätte geerntet, »was Gutenberg (mit dem Buchdruck) gesät« hätte (53). »Eine alles andere als erwartbare Tatsache« müsse das Gelingen der »religiösen Reform« erklären: Luther hätte einen Glauben gefordert, der »dem sinnlich begriffenen Menschen abverlangte, weitestgehend ›unsinnlich‹ zu glauben«. »Der Schwenk des Glaubens zum Buch und zum Lesen« (48), zur sola scriptura und zur »alle Kommunikation reformatierenden Effekte der buchdruckgetriebenen Alphabetisierung« führte die Reformation zum Erfolg. Nicht »bessere Argumente«, sondern Verschiebung der »Plausibilitäten (Einstellung/Zeitgeist)« ermöglichten nach W. die Reformation (99).
Der »Kollaps der Rhetorik« leitete nach W. in die vom autarken Selbstbewusstsein bestimmte »Subjektphilosophie« über (56): Nach ihm lautet die notwendig »abgeleitete Konsequenz, dass die Bedeutung eines Mediums nicht im Medium selbst begründet liegt, sondern durch das Verhältnis, in welchem ein Medium zum anderen steht« (58). Nicht mehr die Sache bzw. das Wort selbst erscheint als Phänomen oder kommt zur Sprache, sondern die mess- und wägbar dynamische Wechselbeziehung quantitativer, definierter Größen.
Bei genauerer Erwägung zeigt sich diese so titulierte Subjekt-Philosophie jedoch eher als »Philosophie des Individuums«, das – um sich selbst wissend – seine Grenzen absichern und von sich heraus übersteigen möchte, weniger indessen als ein Wissen, dem das fundamentale »Bewusstsein« von einem Anderen qua logos mit »unterstellt« wird, wie es etymologisch (subicere) zu erwarten ist. Der Gebrauch von »Subjekt« verrät bei W. stärker die Nähe zum Begriff »Individuum«, dem »Ungeteilten«, bis das »Subjekt« selbst ausdrücklich sozial »dialektisch in Form der selbstwidersprüchlichen Beziehung von Ich und Nicht-Ich«, also als »Gesellschaft« aufgeht (106).
Die inhaltlich reich ausgestattete Studie ist nicht nur für heu-tige Ausleger allgemein anregend und informativ, sondern sollte im Vollzug gegenwärtiger hermeneutischer Neuorientierung zu­kunfts­offenen Umgangs mit jeweiliger Tradition und wirkungsgeschichtlicher Herkunft anregend, ja verpflichtend sein. Die zahlreichen Verästelungen der Genese moderner Textauslegung und Medienhandhabung, die hier minutiös anklingen bzw. herbeigewunken werden, verhelfen zur Besinnung auf eine real-phänomenologische Hermeneutik. Die Leistung des Buches leitet zu einer fruchtbaren Vergleichbarkeit diverser Seinszeugnisse aus unterschiedlichsten Kulturen und Zeiten hin, die sich im globalen Dialog phänomenologisch realisieren können.
Die Arbeitsfolie des Buches macht auf wesentliche Denk- und Lebensvollzüge aufmerksam, welche in den heutigen Medien einfach (nicht einmal mehr nur im Machtgefühl einer wiederum längst historisch gewordenen Buchdruckerkunst, sondern in oft gedankenloser Erfolgs-Hybris) überspielt werden. Die eigentlich als »Subjektphilosophie« vorgelegte »Individualphilosophie« verteidigt ihre (euro-amerikanischen) Grenzen unter den Bedingungen – herkömmlich postulierter – »richtiger« Kriterien. Die globale Welt indessen erfordert aufgrund einer futuristischen Weite und Entwicklung innovative Kriterien – genauso wie sie sich in den thematisch zu Recht avisierten Belangen des vorgelegten Buches angemeldet haben – zur global interreligiös-interkulturellen Lösung phänomenaler Probleme des Seins im Vollzug ontologisch offenen Dialogs.