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Ausgabe:

Juli/August/2013

Spalte:

851–852

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Voigt, Friedemann [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Freiheit der Wissenschaft. Beiträge zu ihrer Bedeutung, Normativität und Funktion.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2012. VIII, 186 S. Geb. EUR 69,95. ISBN 978-3-11-026614-6.

Rezensent:

Tilman Fuß

Das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit ist gegenwärtig in verschiedener Hinsicht Gegenstand von Diskussionen. Sie wird in unterschiedlichen Zusammenhängen und aus unterschiedlichen Gründen als gefährdet angesehen. Beispiele sind gesetzliche Re­striktionen für ethisch strittige Forschungen (z. B. Stammzellforschung, Tierversuche), das Patentrecht oder die Abhängigkeit universitärer Forschung von privaten, ökonomisch interessierten Drittmittelgebern.
Eine solche Einschränkung der Forschungsfreiheit durch externe Mitfinanzierung wird aktuell etwa im Falle einer Kooperation zwischen der Uniklinik Köln und der Firma Bayer Pharma in der medizinischen Forschung befürchtet. Um beurteilen zu können, wie es bei dieser Zusammenarbeit um die Forschungs- und Publikationsfreiheit bestellt ist, wurden strukturelle Transparenz und die Offenlegung des Kooperationsvertrags eingeklagt. Im Dezember 2012 ist diese Forderung gerichtlich zurückgewiesen worden – mit dem Argument, dass der Schutz privatwirtschaftlicher Be­triebsgeheimnisse das öffentliche Informationsinteresse überwiege (vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. Dezember 2012, N5). Freilich hatten sich nicht nur die Kritiker, sondern auch die Kooperationspartner auf die Wissenschaftsfreiheit berufen: Die Geheimhaltung der Verträge solle die Forscher schützen. Damit lässt sich der Kölner Streit als Beispiel für einen Konflikt zwischen der institutionellen und der individuellen Dimension der Wissenschaftsfreiheit nehmen.
In dem zu besprechenden Sammelband widmet sich der in München lehrende Jurist Ino Augsberg diesem Grundsatzthema. Seine Argumentation, die auf einen Vorrang der institutionellen Wissenschaftsfreiheit zielt, hat zumindest im Blick auf den geschilderten Kölner Fall einige Plausibilität, denn hier sollte in der Tat das (institutionelle) Interesse an einer von ökonomischer Vereinnahmung freien öffentlichen Forschung Vorrang haben vor der (individuellen) Freiheit der beteiligten Wissenschaftler.
Augsberg fragt systemisch-teleologisch nach der Funktion der Wissenschaftsfreiheit im Wissenschaftssystem. Sie versetze die Wis­senschaft in die Lage, anstelle des Staates selbst zu definieren, was als Wissenschaft gelten kann. Diese Definition erfolge kollektiv durch die wissenschaftliche Gemeinschaft. Daher sei diese der primäre Grundrechtsträger. Der einzelne Wissenschaftler, der zu einem solchen »nur durch Partizipation im Systemganzen wird« (80), genieße die Wissenschaftsfreiheit nur deshalb, weil durch die Möglichkeit des Abweichens vom Mainstream die »Pluralität und Innovationsoffenheit des Wissenschaftssystems« (ebd.) gesichert werde. Die individuelle Wissenschaftsfreiheit diene also der institutionellen, nicht umgekehrt. Es ist allerdings fraglich, ob die Wissenschaft sich nur im Kollektiv selbst definieren kann. Die Selbst definitionskompetenz kann auch im einzelnen Wissenschaftler liegen, sofern formale Regeln des systematisch-methodischen Vorgehens, der Nachprüfbarkeit und der Kommunikation gelten. Damit könnte dasselbe Argument der individuellen Wissenschaftsfreiheit den grundsätzlichen Vorrang geben.
Es vereint die meisten Beiträge des Bandes, dass die Wissenschaftsfreiheit durch ihre politischen und gesellschaftlichen Funktionen begründet wird, ohne dass die Wissenschaft damit auf unmittelbare Nützlichkeit festgelegt werden soll. Damit wird an­erkannt, dass eine rein abwehrrechtliche Begründung nicht ausreicht, da zur Garantie der Wissenschaftsfreiheit auch die aktive und kostspielige Bereitstellung günstiger Rahmenbedingungen durch den Staat gehört.
Aus soziologischer Sicht plädieren daher Alfons Bora und David Kaldewey dafür, die Öffentlichkeit im Verhältnis zur Wissenschaft nicht nur in der Rolle der »Leistungsempfänger« zu sehen, sondern auch als »Souverän«, der eine freie Wissenschaft ermöglicht. Die Philosophin Elif Özmen beantwortet die Frage nach den »normativen Grundlagen der Wissenschaftsfreiheit« mit dem Verweis auf den »Wert der Wahrheit« (116). In ihm sieht sie den Kern des »Ethos der Wissenschaft« (113 ff.), womit sie ein autarkistisches Verständnis einer an sich wertfreien Wissenschaft überwinden will, die es ausschließlich durch eine externe Wissenschaftsethik mit ethischer Normativität zu tun bekommt. Dem hiermit vorgetragenen Verständnis einer Ethik der Wissenschaft, die ihre leitenden Normen innerhalb der wissenschaftlichen Praxis findet, anstatt sie von außen einzutragen, entspricht das liberale Ethikverständnis, das der Herausgeber Friedemann Voigt vor dem Hintergrund des in der modernen Theologie ausgefochtenen Kampfes um die freie his­torisch-kritische Bibelforschung empfiehlt.
Überwiegend wird ein grundsätzlicher Zugang zum Thema gewählt. Auch wenn in manchen Beiträgen (nicht alle konnten hier erwähnt werden) aktuelle Beispiele für Konflikte um die Wissenschaftsfreiheit benannt werden, ist das Buch insgesamt »nicht un­mittelbar auf die Anwendungsperspektive ausgerichtet« (Einleitung, 4). Den Bezug zu heutigen Anlässen, über die Wissenschaftsfreiheit nachzudenken, müssen die Leser meist selbst herstellen. Wie eingangs angedeutet wurde, gibt es solche Anlässe.