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Ausgabe:

Juli/August/2013

Spalte:

848–851

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Verplaetse, Jan

Titel/Untertitel:

Der moralische Instinkt. Über den natürlichen Ursprung unserer Moral. Aus d. Niederländischen v. Ch. Kuby u. H. Post.

Verlag:

Göttingen u. a.: Vandenhoeck & Ruprecht 2011. 303 S. m. 3 Abb. Kart. EUR 29,99. ISBN 978-3-525-40441-6.

Rezensent:

Andreas Klein

Das Werk des niederländischen Moralphilosophen Jan Verplaetse, der in der entsprechenden Debatte hinlänglich ausgewiesen ist, greift ein höchst spannendes wie kontroverses Thema auf. Die zugrundeliegenden Fragen beschäftigen Philosophie, Ethik und Theologie seit längerer Zeit. Gleichwohl waren die unterschiedlichen Zugänge zur Frage nach naturalen Anbindungen menschlich-(un-)moralischen Handelns über längere Zeit hinweg von recht differierenden Hintergrundannahmen gekennzeichnet, die die gesamte Diskussion zum Teil schon im Vorfeld belasteten. Unter dem Titel einer Evolutionären Ethik oder der Soziobiologie versammelten sich unterschiedliche Naturalisierungsansprüche, die wiederum heftige Kritik auf sich gezogen haben. Von hier aus ist die vorgezeichnete thematische Landkarte als durchaus vermint zu bezeichnen. Umso erfrischender ist es, wie der Vf. mit viel Um­sicht und beeindruckendem empirischem Detailwissen das um­kämpfte Terrain bearbeitet.
Ausgangspunkt ist dabei die kaum bestreitbare Einsicht, dass moralisches Verhalten, wie es sich in den unterschiedlichsten Kulturen und Sozietäten zunächst einmal herausgebildet hat, nicht vom Himmel gefallen ist, sondern (auch) biologisch-evolutionäre Funktionen erfüllt. »Moral« ist demnach »tief in der biologischen Natur verankert« (17). Von dieser Ausgangsüberlegung her werden zahlreiche empirisch-wissenschaftliche Erkenntnisse aus unterschiedlichsten Disziplinen einbezogen, um die naturale Grundierung moralischen Verhaltens freizulegen. Dadurch bekommen sowohl die bewundernswerten Leistungen des Menschen als auch seine gewalttätigen und sinnlos wie absurd erscheinenden Eigenschaften ihre eigene Dimensionierung. Der Vf. hebt dabei be­son­ders hervor, dass zwar die jeweils herausgebildeten Verhaltensweisen natürliche Funktionen ausüben, die Moralität aber ihrerseits eine Plastizität besitzt und darum auch modifizierbar ist. Entscheidend ist zudem der Hinweis, dass die Erklärung von Ver­-haltensweisen, die einem bestimmten (biologisch-evolutionären) Zweck dienen, nicht schon ihre Rechtfertigung bedeutet (14). Das Problem des naturalistischen Fehlschlusses bleibt also deutlich im Blick (vor allem 209 ff.). Von hier wird dann sichtbar, dass Moral für den Menschen zwar unausweichlich ist (»Moralität […] gehört zur Grundausstattung des Menschen«: 19), diese aber recht unterschiedlich, je nach Bedarf und Kontextkonfiguration, ausdifferenziert wurde und wird. Dabei dient Moral zunächst dem höheren Gut des »Erhalts und Fortbestandes der Gemeinschaft« (19) und grenzt so die jeweilige Freiheit zugunsten dieses Gutes ein. Neben diesen unterschiedlichen Ausdifferenzierungen fallen aber be­son­ders die zahlreichen und fundamentalen Gemeinsamkeiten ins Auge.
Der Vf. versucht nun zu erkunden, »welche moralischen In­stinkte es gibt und was ihre biologische Grundlage ist« (19). Freilich könnte man bereits hier problematisieren, ob nicht schon der durchaus schillernde Begriff des »Instinkts« unter aktuellen Forschungsbedingungen eher zurückhaltend verwendet werden sollte. Gleichwohl gelingt es, das damit Gemeinte zu vermitteln. Der Vf. arbeitet insbesondere fünf moralische Systeme heraus, wobei lediglich eines davon (das letzte) eine explizit rationale Basis aufweist. Diese fünf Systeme werden in breiter Form und sehr ausdifferenziert dargestellt und diskutiert. Dabei bezieht der Vf. eine enorme wissenschaftliche Datenbasis ein.
Bei der Bindungsmoral (25–74) geht es um Haltungen, die aus bestimmten angeborenen Fähigkeiten resultieren und dazu disponieren, z. B. nahestehende Menschen herausgehoben zu betrachten, aber auch generell menschliche Bindungen als grundlegend zu schätzen. Dabei sind bereits fundamentale biologische Prozesse am Werk, in denen Zuwendung, Nähe, Fürsorge, Empathie usw. von grundlegender Bedeutung sind. Elementare Angewiesenheit und gegenseitige Hilfestellung in gesellschaftlichen Bezügen sind also gewissermaßen schon biologisch fix verdrahtet. Umgekehrt führen Bindungsprobleme oder Bindungsabbrüche zu spezifischen Alternativkonsequenzen. In diesem Kontext wird etwa auf die wichtige Funktion von Oxytocin für den Bindungsprozess verwiesen, sodann auf die schon sehr früh zu beobachtende Imitationsfähigkeit und Übernahme von Emotionen, auf das Konzept einer »Theory of mind«, den Hilfereflex, auf Spiegelneuronen, den evolutionären Altruismus und die Aggressionshemmung. Deutlich wird aber auch, dass die jeweilige Situation und auch der soziokulturelle Hintergrund eine Rolle spielen.
Die Moral der Gewalt (75–122) wiederum hat es mit der legitimen Anwendung von Aggression zu tun und damit, wie im Bedarfsfall mit einer als feindselig oder als gefährlich empfundenen Um­welt (Feinde, Bedrohungen usw.) zu verfahren ist, vorwiegend mit dem Ziel des Schutzes und der Eliminierung von Furcht. Damit versucht der Vf. auch dem ersten Eindruck, Gewalt könne doch nur unmoralisch sein, zu begegnen, da Gewalt auch eine legitime Funktion einnimmt. Sie unterliegt aber stets gewissen Regeln und Codes. Darum ist Gewalt »nicht von vornherein ein Rückfall in primitivste Verhaltensformen« (78). Voraussetzung dafür ist zumeist eine Form der Ressourcenknappheit. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang auch das Übergewicht an Gewalttätigkeit durch Männer. Zudem spielen Initiationsriten (der Krieger) eine wichtige Rolle, wodurch auch das Bindungsverhalten verändert wird.
Die Moral der Reinigung (123–156) zielt darauf, das Gute oder das Böse mit jeweils entsprechenden Prädikaten, die durchaus mit gesundheitsrelevanten Konnotationen korreliert sind, zu besetzen. So wird etwa das Böse mit Ekel behaftet, das Gute mit angenehmen Assoziationen. Bereiche des Essens, der Verdauung, des Wohnens und der Sexualität sind hier besonders von Bedeutung. Mit diesen Mechanismen und Vermeidungsstrategien werden fundamentale Emotionen (angenehm versus unangenehm) bedient, die eine ad­-äquate Verhaltenssteuerungsfunktion erzielen sollen (Regeltreue). Damit sind auch Gruppenabgrenzungen verbunden, da Außenstehende häufig als unrein qualifiziert werden (Berührungsängste). Diese Mechanismen fußen wiederum auf evolutionären Prozessen. Freilich spielen hier dann auch rituelle Begehungen der Reinigung usw. eine wichtige Rolle.
Die Moral der Kooperation (157–207) ist ebenfalls eine fundamentale Eigenschaft, wobei es um gesamtgesellschaftliche Anliegen geht, da vieles überhaupt nur gemeinschaftlich zu erreichen oder zu gestalten ist. Diese Eigenschaft ist so grundlegend, dass sie häufig überhaupt nicht auffällt, da wir beispielsweise auch mit wildfremden oder gar unbekannten Menschen kooperieren. Gleichzeitig wird aber ein Regelwerk erstellt (etwa auch Institutionen, Emotionen, Wirtschaftssystem usw.), um eventuelle Systemausnutzer oder Betrüger zu verhindern oder zu sanktionieren, jedenfalls aber um das damit verbundene Risiko kalkulierbar zu machen. Auch hier geht es also wieder um Formen gewünschter Verhaltenssteuerung. Egoismus und Altruismus sind dabei zen­-trale Verhaltensweisen, die aber ihrerseits biologische Wurzeln haben und eng mit Emotionen verbunden sind. In besonderer Weise kommen hier Spieltheorien und mathematische Modelle bei der wissenschaftlichen Erklärungssuche zum Einsatz.
Abschließend geht der Vf. einer rational ansetzenden Prinzipienethik (209–249) nach, die insbesondere auch die Nachteile der anderen moralischen Systeme kompensieren soll. Gerade der Um­stand, dass die anderen Systeme moralische Probleme häufig nicht rational befriedigend lösen oder sich einer guten rationalen Be­gründung entziehen, braucht ein entsprechendes Korrektiv. Hier setzen dann z. B. Begriffe der Würde, der Gleichheit, des Nichtschadens oder der Freiheit als oberste Perspektiven an. Es werden unterschiedliche ethische Zugangsweisen dargestellt und diskutiert, aber vom Vf. ein Prüfverfahren (angelehnt an juristische Prüfverfahren) im Rahmen einer »dynamischen rationalen Ethik« (238) favorisiert, welches Handlungsweisen auf ihre Rechtfertigung hin überprüfen soll.
Es sollen also abschließend beide Seiten zusammengehalten werden, nämlich einerseits Erklärungen für unser faktisches, in unterschiedlichen Kulturen unterschiedlich ausdifferenziertes Verhalten, das sich zu guten Teilen biologisch-evolutionären Strategien verdankt, und andererseits eine Prinzipienethik als »Moral der Zukunft« (21) zu empfehlen, da sie leistet, was Menschen in modernen Kulturen von einer akzeptablen Moral erwarten und was eben durch die anderen Systeme nicht abgedeckt wird. Moral ist für den Vf. »eine Kombination von Emotion und Ratio, von Natur und Kultur« (23). Damit sollen die häufig in entsprechenden Diskursen auftretenden Einseitigkeiten überwunden werden. Abwegig wäre es jedoch, wollte man das Normative gänzlich vom Realen (210) trennen, wenngleich der Vf. schließlich für eine Prinzipienethik als einzig sinnvolles künftiges Ethikkonzept eine Lanze bricht (vgl. 24). Diese Prinzipienethik muss sich aber stets der realen empirischen Bedingungen des Menschen bewusst bleiben. Damit erliegt der Vf. also keineswegs einer Substituierung des Ethischen unter das Empirische, wobei jedoch die wechselseitigen Be­züge deutlich im Blick bleiben. In einem Nachwort (251–256) geht der Vf. auch gleich selbst auf mögliche Einwände gegenüber seinem Ansatz ein und formuliert noch einige Ausblicke.
Insgesamt ist das vorliegende Buch eine äußerst gute und le­senswerte Bereicherung für die Diskussion um das Verhältnis von faktischem Verhalten und seinen biologischen Wurzeln und einer rationalen Ethik. Das Buch ist auch stilistisch sehr ansprechend geschrieben und darum gut lesbar, es bietet sehr viele empirische Verweise und Studien und ist auch für denjenigen, der selbst bereits länger in dieser Diskussion steht, ein Gewinn. Es kann also nur hoffen, reichlich Interessenten zu finden.