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Ausgabe:

Juli/August/2013

Spalte:

845–847

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Glück, Alexander

Titel/Untertitel:

Offenheit – Empfänglichkeit. Mystik und Phänomenologie.

Verlag:

Würzburg: Königshausen & Neumann 2012. 212 S. = Epistemata Philosophie, 520. Kart. EUR 29,80. ISBN 978-3-8260-4884-5.

Rezensent:

Stefano Bancalari

Das Buch von Alexander Glück, der 2011 in Wien mit einer gleichbetitelten Dissertation bei Helmuth Vetter promovierte, lässt zwei verschiedene Lektüreweisen zu.
Auf der einen Seite kann sich der Leser auf die umfassende und faszinierende Phänomenologie der »Offenheit« einlassen, deren Ziel es ist, die Prägnanz und Tragweite dieses leeren und daher scheinbar fruchtlosen Begriffs herauszuarbeiten. Und die Leere ist gerade der entscheidende Punkt: Als eigentliche Wurzel der Offenheit (und des Offenbarseins) muss sie entsprechend der Vielfältigkeit ihres Sich-Zeigens vielfach ausgesagt werden. Das fordert den Verzicht auf viele Denkgewohnheiten, an erster Stelle auf eine On­tologie, die auf dem Vorrang der materiellen Ding-Substanz gründenden Ontologie fußt. Sich vor allem auf Heidegger stützend, stellt G. die Korrespondenztheorie der Wahrheit ( adaequatio) radikal in Frage. Das ermöglicht, das herrschenden Paradigma der Offenheit als tabula rasa zu dekonstruieren, nach dem die Begegnung zwischen Mensch und Welt gleichsam als Stoß zweier harter, sich wechselseitig widerstehender Dinge gedacht wird. Andere Pa­radigmen erweisen sich als angemessener, die Offenheit des Menschen für die Offenheit als solche zu denken, die ihm den Bezug zu etwas anderem als sich selbst (Dingen, anderen Menschen, Welt, Gott) gewährt. Die berühmte Heideggersche Beschreibung des Krugs im Vortrag Das Ding, derzufolge der leere Raum zwischen den Wänden dem Krug sein Wesen zugibt und es ein zu­gleich aufnehmendes und schenkendes Gefäß sein lässt, dient G. als Ansatzpunkt seiner Weiterbearbeitung der Offenheit als Empfangen, Kommenlassen, Passivität, Zurücktreten usw., um einige Schlüsselbegriffe seiner Untersuchung zu erwähnen. Das Originelle dieses Buches liegt aber vor allem darin, dass G. die äußerst for-male Heideggersche Begrifflichkeit in seinen »spezifische[n] Er­fahrungsgrund« (11) zu integrieren versucht: »Ein allgemeines Ziel der Arbeit wäre jedenfalls, die ontologische Bedeutung des Of­fenen bei Heidegger auch innerhalb des ›bloß‹ Empirischen sichtbar werden zu lassen« (13). Um diese Absicht zu verwirklichen, rekurriert er auf die unterschiedlichsten Denker und Denkweisen: Insbesondere nimmt er die französische Phänomenologie (vor al­lem Levinas und Derrida) und den »religiös-mystischen Bereich« (d. h. Johannes Tauler, Meister Eckhart und Johannes vom Kreuz) in Anspruch, obwohl G. seine »Herkunft und Verbundenheit mit buddhistischer Philosophie nicht unerwähnt lassen« will (13). Die sehr schönen und stimmungsvollen Analysen G.s münden in die Idee der »Transparenz« als der eigentlichen Chiffre der Offenheit, jener reinen Empfänglichkeit, die alles fließen lässt und nichts für sich behält.
Auf einer anderen Seite darf man sich dem Buch aus philosophischer Perspektive mit einer vorsichtigeren Einstellung nähern und fragen, wie die Methode von G.s Analyse in einer sowohl histo­-rischen als auch in einer theoretischen Hinsicht gerechtfertigt sein soll. Sicherlich hilft das Fehlen einer Kontextualisierung nicht, eine überzeugende Antwort zu finden. Der Leser wird beispielsweise nicht darüber informiert, dass die Begegnung zwischen Phänomenologie und »Mystik« (eine sehr allgemeine und erklärungsbedürftige Kategorie) mindestens so alt ist wie die Phänomenologie selbst. Erwähnt werden weder Rudolf Otto, der eine entscheidende und bahnbrechende Rolle gespielt hat, noch die heutigen Versuche einer kritischen Phänomenologie der Mystik (z. B. bei Nelson Pike oder Anthony Steinbock). Was noch wichtiger ist: Es wird kein Hinweis darauf gegeben, dass sich Heidegger selbst ausdrücklich mit der »mittelalterlichen Mystik« (und insbesondere mit Meister Eck­hart) auseinandergesetzt hat und aus dieser Auseinandersetzung einige außerordentlich wichtige Anreize und begriffliche In­strumente entnommen hat. In diesem Zusammenhang scheinen Begriffe wie »Strukturähnlichkeit« (17) oder »strukturelle Analogie« (13.123) eigentlich zu flexibel, um zwischen Heidegger und anderen Denkern Verbindungen festzustellen, die sachlich sind und nicht willkürlich wirken.
Es sei hier nur einer der fraglichsten Fälle erwähnt, und zwar die These, dass das Denken Heideggers und Levinas’ irgendwie auf ein gemeinsames Fundament zurückgeführt werden können. Abgesehen von der Schwierigkeit, Levinas eine »mystische« Neigung zuzuschreiben, darf man eine Ähnlichkeit in der Idee der Offenheit für das »ganz Andere« (eine Kategorie, die übrigens weder von Heidegger noch von Levinas stammt, sondern eben von Rudolf Otto) nur feststellen, wenn man den Umstand vernachlässigt, dass der »An-­dere« bei Levinas niemals ein Neutrum (»Anderes«) oder ein Oberbegriff für Welt, Dinge und Gott ist, sondern der ganz konkrete und empirische Andere, der Nächste, der mich durch sein Antlitz zum Guten herausfordert und zwingt. Dass die Passivität angesichts des Seins und das Empfangen des Anderen Variationen über ein und dasselbe Thema sind, ist alles andere als selbstverständlich. In ähnlicher Weise könnte und müsste mutatis mutandis der Verweis auf die vielen Denker, die G. zu Heidegger in Beziehung setzt, kritisch geprüft werden. Obwohl mühsamer und pedantischer, ist diese zweite Lektüreweise nicht hinterfragbar, wenn man den An­spruch erhebt, nichts weniger als Buddhismus, Daoismus, christ­-liche Mystik und gegenwärtige Phänomenologie in ein Gespräch zu bringen.