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Ausgabe:

Juli/August/2013

Spalte:

841–843

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Albrecht, Reyk, Knoepffler, Nikolaus, u. Klaus-M. Kodalle[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Korruption. Moralische Verdorbenheit oder Ergebnis falscher Strukturen?

Verlag:

Würzburg: Königshausen & Neumann 2010. 190 S. m. Abb. u. Tab. = Kritisches Jahrbuch der Philosophie, Beiheft 9/2010. Kart. EUR 29,80. ISBN 978-3-8260-4442-7.

Rezensent:

Torsten Meireis

Der Band, Ertrag des »Thüringentags für Philosophie 2009«, bietet eine bunte Sammlung von Beiträgen zu Konzept und Phänomen der Korruption, die in der Regel von dem weiten Begriff eines »Missbrauchs anvertrauter Macht zum privaten Nutzen oder Vorteil« ausgehen, wie er von Transparency International vertreten wird, dessen Weite allerdings deskriptiv wie präskriptiv nicht ganz unproblematisch ist. Dies wird bereits in Ulrich Hemels Beitrag deutlich, der anhand der Unterscheidung eines rechtlichen von einem moralischen Korruptionsbegriff zu verdeutlichen sucht, dass die Deutung eines Geschehens als Korruption vom »gesellschaftlichen Wertekorridor« abhänge und die Arbeit an korruptionsbegrenzenden Werten erfordere. Der Hinweis auf die kulturelle Kontextualität des Korruptionsbegriffs und die Notwendigkeit der Werteetablierung dient dann freilich eher zur Illustration als zur Bearbeitung der von Hemel gestellten Frage nach dem Verständnis des Machtmissbrauchs.
Reyk Albrecht und Nikolaus Knoepffler setzen mit einem auf Bestechlichkeit fokussierten Korruptionskonzept ein. Im Ausgang von der Behandlung der Thematik, wie sie die Rational-choice-Theorie anbietet, suchen sie die Bedeutung nichtrationalen Verhaltens und einer darauf abgestimmten Sanktionspraxis einzuschärfen, da Bestechlichkeit angesichts der im Falle einer Entde-ckung drohenden Übel keineswegs in allen Fällen als rational zu verstehen sei.
Ingo Pies und Markus Beckmann entwickeln in ihrem Beitrag einen als »Ordonomik« etikettierten Zugang mittels der Rational-choice-Theorie, der auf die Unterscheidung dreier Ebenen – Regelbefolgung, institutionelle Regelsetzung, gesellschaftliche Regelfindungsdiskurse – abhebt und am Beispiel des Whistleblowing erläutert wird. Unternehmensethisch rekonstruieren Pies und Beckmann Fehlverhalten deckende Schweigekartelle als Dilemmastrukturen (Regelbefolgung), die durch institutionelle Anreize (Regelsetzung) – etwa eine Anonymität gewährleistende Ombudsstelle für Whistleblower – bearbeitet und durch die semantische Verdeutlichung der Ambivalenz von Tugenden wie Vertrauen, Loyalität und Kooperation (ges. Regelfindungsdiskurse) flankiert werden müssten. Auch wenn die Anwendungsorientierung unter Bezug auf systemische Mechanismen einleuchtet, bleibt doch die Frage nach dem normativen Referenzsystem der Analyse offen, da die erstrebte Lösung immer schon als konsensuell unterstellt werden muss – dies aber ist in Fällen konkurrierender normativer Weltdeutungen keineswegs ausgemacht, da sich die semantische Frage schon auf der Ebene der Regelbefolgung wie der Sozialstruktur stellt.
Birger Priddat unternimmt es, die Korruption in den Rahmen einer politischen Ökonomie einzuordnen, in der partikulare Wirtschaftsinteressen mit verschiedenen Mitteln – informelle Karriereversprechen an amtierende Politiker oder klassisches Lobbying – um Einfluss auf die staatliche Regelsetzung kämpfen (rent-seek-ing). Korruption wird dann unter dem Titel der Bestechung als illegaler Sonderfall des rent-seeking thematisiert, mit dem Akteure sich die hohen Kosten der Politikbeeinflussung zugunsten unmittelbarer Einflussnahme auf den (öffentlichen) Vertragspartner zu ersparen suchen. Während die Bestechlichkeit dann sehr genau analysiert wird, bleibt der Korruptionsbegriff in normativer Perspektive merkwürdig unscharf, weil Priddat auch das legale Lobbying dort einordnet (97–98), so dass offen bleibt, welche Form des rent-seeking als legitim gelten darf.
Eine Reihe von weiteren Beiträgen bietet interessante Informationen in Form von Berichten, aber auch mit »anekdotischer Evidenz« (139). Takeshi Nakazawa informiert über die Versuche, das Whistleblowing in Japan gesetzlich zu etablieren, die er kritisch beurteilt; Winfried Meißner schildert industrielle Einflussnahmen und wissenschaftliches Fehlverhalten im Kontext der Medizin; Martin Leiner erörtert Problemlagen der Einflussnahme in den Medien, die von Bestechlichkeit über product placement bis zur Frage zulässiger Nähe von Journalisten und Informanten reichen; Klaus-M. Kodalle berichtet – auch an­hand der eigenen Biographie – über Fehlverhalten im Kontext des Wissenschaftsbetriebs, wobei er u. a. Berufungsverfahren, Begutachtungspraxen und Plagiarismus thematisiert, Monika Merbach und Martin Leiner suchen anhand statistischer Daten eine Korrelation von Religionszugehörigkeit und Korruptionsneigung nachzuweisen, die allerdings aufgrund der unsicheren Daten­lage und der Isolierung des Faktors organisierter Religion etwas skeptisch stimmt.
Deskriptiv werden unter dem Korruptionsbegriff sehr verschiedene Sachverhalte – von »Bestechung« über »politische Einflussnahme« bis zu »Fehlverhalten im Verstoß gegen berufsständische Normen« – subsumiert; präskriptiv wird die Frage nach dem normativen Gehalt des Machtmissbrauchskriteriums nur in Ansätzen– so etwa bei Hemel und Leiner (123–128 u. Anm. 1) – erörtert. Gleichwohl bietet der Band eine gut lesbare und thematisch weitgefächerte und somit spannende Einführung in die Probleme der Korruption.