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Ausgabe:

Juli/August/2013

Spalte:

839–841

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Stengel, Friedemann

Titel/Untertitel:

Aufklärung bis zum Himmel. Emanuel Swedenborg im Kontext der Theologie und Philosophie des 18. Jahrhunderts.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2011. XVI, 802 S. = Beiträge zur historischen Theologie 161. Lw. EUR 134,00. ISBN 978-3-16-150965-0.

Rezensent:

Rudolf Mau

Die weit angelegte Untersuchung, mit der sich Friedemann Stengel in Heidelberg für das Fach Kirchengeschichte habilitierte, entstand im Rahmen eines interdisziplinären Forschungsprogramms zur Aufklärung im Bezugsfeld neuzeitlicher Esoterik. S. hat das vielseitige Gesamtwerk des umstrittenen schwedischen Gelehrten und dazu zahllose Referenztexte durchmustert mit dem Ziel, Swedenborgs Gedankenwelt so genau wie möglich im geistigen Leben seiner Zeit zu verorten. Dazu waren viele nur schwer erkennbare zeitgenössische Bezugnahmen auf ihn aufzuspüren und zu werten; hinter der häufigen namentlichen Distanzierung von Swedenborg galt es, »gezielt nach ›subkutanen‹ […] Auseinandersetzungen, Adaptionen und Zurückweisungen swedenborgischer Lehrelemente« zu fragen (8). Beharrliche gezielte Nachfrage macht die bisher so nicht vermutete Bedeutung Swedenborgs für den kontemporären wissenschaftlichen Diskurs erkennbar. So erweist sich zum Beispiel das Urteil, Immanuel Kant habe mit seinen Träumen eines Geis­tersehers von 1766 Swedenborgs Geisterlehre geradezu hingerichtet (E. Benz 1941), als weit überzogen, da Kant sich nicht in toto von Swedenborg distanzierte, sondern auch später noch wichtige Systemelemente von ihm übernommen habe. Durch das Aufzeigen von Art und Umfang zeitgenössischer Rezeption des Werkes Swedenborgs macht S. eine bislang nicht thematisierte Variante der theologischen und philosophischen Aufklärung sichtbar. Jetzt gab es (mit einem Dictum Swedenborgs) auch eine Aufklärung bis zum Himmel. Denn der durch den Rationalismus des 18. Jh.s ge­prägte Gelehrte sah sich aufgrund seiner visionären Erlebnisse dank göttlicher Gnade in die Lage versetzt, über die immaterielle, intelligible Welt, das geistige Universum nun auch empirisch be­gründete Aussagen machen zu können. So werde es auch möglich, »verstandesmäßig in die Geheimnisse des Glaubens einzudringen« (752). – Zur Biographie Swedenborgs« (13–54) ergibt sich, dass eine religi­öse Entwicklung bei ihm bis zur biographischen Wende um 1744 kaum zu erkennen ist (37). Bei der Auswertung von Swedenborgs Berichten über seine Visionen und Offenbarungen folgt S. einem konsequent historischen Ansatz; er verzichtet grundsätzlich auf Deutungen psychohistorischer Art (etwa als paranoid, schizophren). S. betont subtil differenzierend, dass es sich bei den fraglichen Swedenborg-Texten um »literarische Bekräftigungen« von dessen »eigener Gedankenwelt« und um die »Fortsetzung seiner bewussten Spekulationen« handele (36). So hätten also »nicht die Visionen, sondern deren Interpretation durch Swedenborg« den biographischen Einschnitt herbeigeführt (45).
Ausführlich, mit viel interessantem Detail, bringt Kapitel 2 Swedenborgs Wirken »als Naturphilosoph und Naturforscher (1716–1745) im Urteil der Zeitgenossen« zur Sprache (55–188). Er war als hy­pothesenfreudiger Naturforscher bekannt wie auch umstritten. Im geistigen Bezugsfeld zwischen cartesianischem Geist-Materie-Dualismus und spinozistischem Monismus ging es ihm um eine organische Verbindung von Naturforschung, Theologie und geis­tigem Universum, die er besonders durch den Aufweis von Korrespondenzen zu erreichen suchte. Bis zur biographischen Wende meinte er, die Natur der Seele nur durch Analogieschlüsse erkennen zu können. Zeitgenössische Kritik traf besonders seinen An­spruch, empirisch vorzugehen, obwohl er aprioristischen Maßstäben folgte (185 f.). – Kapitel 3 bietet einen systematischen Überblick über »Swedenborgs Theologie und Geisterweltlehre« (189–332), vor al­lem anhand der beiden Hauptwerke, den 1749–1756 anonym publizierten Bänden der Arcana coelestia und seinem letzten Buch, Vera christiana religio von 1771. Letzteres folgt dem Aufbau einer luthe­rischen Dogmatik, widerspricht aber an zentralen Pun­k­ten der kirchlichen Lehre. Auch hier stellt S. Zug um Zug Swedenborg in den zeitgenössischen Referenzrahmen und verweist auf apologe­tische Fragestellungen und Kollisionen. Im Bewusstsein der ihm exklusiv widerfahrenen Öffnung der Geisterwelt erhebt Swedenborg zuletzt einen apostolisch-prophetischen Anspruch bis dahin, dass er sein Wort mit der endzeitlichen Parusie Christi gleichsetzt (190 ff.).
Kapitel 4, »Swedenborgs Quellen« (333–452), analysiert seine Be­nutzung von Texten der neueren Philosophie (Descartes, Leibniz, Wolff, Malebranche u. a.), von Quellen der Antike und des Mittelalters sowie christlich-kabbalistischer Literatur. Dies alles aber kombinierte er so, dass hier besser von Kontexten als von Quellen zu reden sei (405 ff.). Biographisch zeige sich, wie Swedenborg »aus der anatomisch-naturphilosophischen Phase seiner Seelen- und Hirnforschungen über metaphysische Modelle zur Konstruktion seiner Geis­terwelt gelangte«. So sieht S. bestätigt, dass Swedenborgs »Sicht der ›eigentlichen‹ Welt in ihren Grundzügen einen literarischen Ur­sprung besaß« (347), und betont sein »Eingebundensein in die zeitgenössischen Debatten«, aus denen heraus sich seine Lehre entwi­ckelte (452). Die Fülle der literarischen Bezüge aber erkläre noch nicht, »wie Swedenborg in die Lage geriet, diese Welt auch zu ›betreten‹ […] und mit Geistern und Engeln zu kommunizieren« (392).
Kapitel 5, »Swedenborgs Theologie im Diskurs« (453–721), widmet sich der zeitgenössischen Debatte um den Geisterseher. Der anonymen Publikation der Arcana coelestia folgte ein Jahrzehnt fast völligen Schweigens bis zu einer Rezension des Leipziger Exegeten Johann August Ernesti von 1760, der die Arcana als ein Grundwerk mystisch-allegorischer Auslegung der Johannisapokalypse wertete und seinerseits bald die hermeneutische Wende zur historisch-kritischen Schriftauslegung einleitete. Hat also Swedenborg katalysierend hierfür den Anstoß gegeben (458 f.505)? – Eine deutliche Nähe zu Swedenborg zeigt die realistische Eschatologie des schwäbischen Pietisten Friedrich Christoph Oetinger (506 ff.). Zwar provozierte Swedenborgs wachsender Anspruch auf seine Offenbarungsträgerschaft einen persönlichen Bruch, aber S. kann zeigen, dass noch eine der letzten Publikationen Oetingers eine »Übersetzung des unkenntlich gemachten Swedenborg« war (512). Mithin sei dieser zum Teil in das biblisch-theosophische System Oetingers eingeschrieben (534). – Immanuel Kant betreffend, wi­derspricht S. der Behauptung einer entschiedenen Ablehnung von Anfang an. Er attestiert Kant ein intensives Studium der Arcana coelestia und zitiert eine vom jungen Herder notierte Kollegäußerung: »Swedenborg sei vielleicht wirklich Phantast, aber es sei nicht alles zu verachten«; statt ihn Lügner zu schelten, möge man es beim non liquet! belassen (641). Da Kant in den Träumen die philosophische Herkunft Swedenborgs bei dem gleichfalls träumend seine Grenzen überschreitenden Rationalismus (Leibniz, Wolff und Crusius) sieht, meint S. Swedenborg eine »zentrale Rolle bei Kants kritischer« Wende zusprechen zu können (643). Es habe auch nicht schon von Anfang an klare Fronten gegeben; bei den ersten Lesern der Träume treffe man auf weit divergierende Vermutungen über deren Intention (648 ff.). Der Schluss des Kapitels gilt dem Nachweis der Präsenz Swedenborgs auch in Kants Eschatologie, Religionslehre und Moralphilosophie.
Den Ertrag seiner erschöpfend gründlichen Untersuchung zu Swedenborg bündelt S. mit einer detaillierten Auswertung an­hand einer Folge von Stichworten (723–752). Dank permanenter gezielter Nachfrage und hoher hermeneutisch-kritischer Sensibilität ist es ihm gelungen, den Vorläufer moderner Esoterik im Jahrhundert der Aufklärung ebenso facettenreich wie auch klar konturiert historisch zu verorten. Im Rahmen des erwähnten Forschungsprogramms hat S. einen zweiten Band angekündigt, der die Swedenborg-Debatte im letzten Drittel des 18. Jh.s und die Rolle des Swedenborg-Diskurses an der Wende zum 19. Jh., im Vorfeld von Erweckungsbewegung und Spiritismus, darstellen soll.