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Ausgabe:

Juli/August/2013

Spalte:

837–839

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Soboth, Christian, u. Thomas Müller-Bahlke [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Reformation und Generalreformation – Luther und der Pietismus. Hrsg. in Zusammenarbeit mit der Stiftung Luthergedenkstätten Sachsen-Anhalt.

Verlag:

Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen; Wiesbaden: O. Harrassowitz 2012. IX, 245 S. m. 26 Abb. = Hallesche Forschungen, 32. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-447-06594-8.

Rezensent:

»Be­kenner oder Eiferer?« das Lutherdenkmal in Eisleben von 1883 den Monumenten in Leipzig und Dresden zur Seite. Die Einweihungspredigt des Hofpredigers Emil Frommel bezog auch die Pietisten unter

Der Titel verwirrt, ist unklar und nicht durchgehend zutreffend. Werden zwei Themen behandelt, nämlich das Verhältnis des Pietismus zur Generalreformation und zu Luther, oder ist beides als ein Thema gemeint, womit der Pietismus als Generalreformation ausgegeben würde? Man könnte die Titelformulierung als vollmundig einladende Wendung durchgehen lassen, wenn damit nicht zwei wichtige und zunächst je für sich zu klärende Probleme miteinander vermischt würden. Die Generalreformation ist von dem Italiener Traiano Boccalini (1556–1613) aus dem Geist der Re­naissancephilosophie aufgebracht und dann in die erste Ausgabe der Rosenkreuzer-Manifeste übernommen worden. Die Rezeption dieses Programmbegriffs im Pietismus wäre ein lohnendes Thema, das zu erörtern hätte, ob und wieweit A. H. Francke in seinem Großen Aufsatz dieses Programm aufgenommen hat. Mit der Reformation Luthers hätte dies freilich nichts zu tun. Den Herausgebern war dieser Aspekt offensichtlich kaum bewusst. Im Na­mensregis­ter begegnet Boccalini überhaupt nicht, und der Sache nach spielen die Rosenkreuzer und J. V. Andreae keine Rolle.
Gemeint ist also der Bezug des Pietismus zur Reformation Luthers, und zu diesem Zweck haben die Franckeschen Stiftungen und die Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt 2009 eine Tagung in Halle veranstaltet, deren Beiträge hier vorgelegt werden. Auch die damit angesprochene Problematik von Kontinuität oder Diskontinuität zweier großer protestantischer Bewegungen ist gehaltvoll und der Erörterung wert. Inwieweit der Band jedoch dabei sozusagen am Ball bleibt, wird noch zu erörtern sein.
Markus Matthias spricht mit seinem Aufsatz »Rechtfertigung und Routine« sogleich das für den Pietismus brennende Problem an, wieweit der Mechanismus von Sündenvergebung und Absolution in der Nachreformationszeit für die Frömmigkeitspraxis ineffektiv wurde. Er geht dabei aus von der erst jüngst aufgewiesenen Modifikation von Luthers Rechtfertigungstheologie in seiner Bi­belübersetzung in Richtung auf eine Gerechtmachung anstelle einer forensischen Deklaration, wie sie von Melanchthon hervorgehoben wurde. An Joachim Lange, Halle, wird gezeigt, wie mit Melanchthon eher auf den Menschen als handelndes Subjekt abgehoben wird. Es wird eine Nähe zur Helmstedter Theologie konstatiert. Die Berufung des Pietismus auf den lebendigen Glauben in Luthers Römerbriefvorrede gilt als Missverständnis. Damit würde jedoch ein wichtiger Beleg für die Wirkung Luthers entfallen. Bedenkt man die Problematik jedoch praktisch (von J. Arndt her) und nicht nur theoretisch, müsste man wohl stärker nuancieren.
Raimund Hoenen vergleicht die »Bildungsanliegen bei Luther und Francke«. Francke soll auf dem Weg der Individualisierung der Pädagogik über Luther hinausgegangen sein. Mit der Aktivierung des Menschen habe er sich dabei von Luthers Rechtfertigungslehre gelöst. In ihrem Kommentar zu Hoenen argumentiert Juliane Jacobi stark von der Bildungstheorie und ihrer Geschichte her und damit nicht eigentlich theologisch. Francke wird gegenüber Lu­ther eine Ausweitung des Erziehungsverständnisses attestiert.
Ulrich Barth vergleicht die hermeneutischen Konzeptionen Lu­thers und Franckes. Dabei erweisen sich nicht alle Sachverhalte als kommensurabel. Francke wird mit der Betonung von Bekehrung und Wiedergeburt eine biographische Intensivierung der Sub­jektivität zugeschrieben. Auch an der Fortentwicklung der kritischen Auslegung wird ihm trotz seines gleichfalls vorhandenen Wi­derstands ein Anteil beigemessen. Den Vergleich hätte man gern genauer auf den Punkt gebracht. Von Marianne Schröter erfährt man sodann, dass für Francke die philologisch-historische Arbeit sich immer nur auf die Schale und nicht auf den Kern des Bi­beltextes bezog. Auf Luther wird dabei nicht mehr Bezug genommen.
Harm Klueting bietet eine Zusammenfassung seiner theolo­gischen Dissertation über Johann Jakob Fabricius (1618/20–1673). Dabei ist es ihm darum zu tun, den Arndtschüler Fabricius als kirchenkonform zu präsentieren. Lediglich die Konkurrenz von Brandenburgischer Zentralgewalt und ständischer kirchlicher Selbständigkeit habe ihn als Spiritualisten abgestempelt und aus der Kirche verdrängt. Fraglich ist jedoch, ob es den kritischen kirchlichen Arndtianismus gab, und eindeutig ist die Zugehörigkeit von Fabricius zum spiritualistischen Umfeld in den Niederlanden. Als Verbindungsglied zwischen Luther und dem Pietismus kommt Fabricius schwerlich in Frage. Darauf weist auch der Kommentar von Hartmut Lehmann zu Kluetings Beitrag hin. Lehmann erwägt deshalb, ob man Fabricius nicht einer besonderen Gruppe von Exillutheranern zuordnen müsste. M. E. würde das nicht viel bringen. Man muss erkennen, dass sich Fabricius theologisch und praktisch außerhalb der Kirche positioniert hat.
Andreas Waczkat handelt mit zahlreichen Noten- und Textbeispielen von »Frömmigkeitstopoi in ›pietistischer‹ Figuralmusik und die Grenzen eines Interpretationskonzepts«. Schon die Themenformulierung zeigt jedoch, dass es schwerfällt, zu stabilen Resultaten zu kommen. Ein eigentümliches Andachtslied hat es von Johann Crüger ausgehend immerhin gegeben. Margit Kern setzt das Gemälde »Zinzendorf als Lehrer der Völker« von Johann Valentin Haidt in Beziehung zu reformatorischen und katholischen Bilddokumenten. Das Spezifische überwiegt in diesem Fall aber derart, dass sich wirklich Generelles nur schwer ableiten lässt.
Der umfangreichste Beitrag von Guntram Philipp »Halle und Herrnhut. Ein wirtschaftsgeschichtlicher Vergleich« hat, abgesehen vom gleichen Arbeitsethos, mit dem Gesamtthema kaum et­was zu tun. Wohl aber erfährt man etwas über die unterschiedlichen lokalen Rahmenbedingungen beider Niederlassungen. Das bis heute akute Problem der Finanzierung religiöser Anstalten kommt in den Blick. Die zahlreichen Wirtschaftsunternehmungen werden vorgeführt. Einen eigenen Sektor bildete dabei der Handel. Der Stil des Wirtschaftens in den beiden pietistischen Zentren war unterschiedlich, unterlag jedoch bestimmten ökonomischen Zwängen und wurde in Verantwortung vor Gott praktiziert.