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Ausgabe:

Juli/August/2013

Spalte:

836–837

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Sallmann, Martin, Lavater, Hans-Rudolf, u. Moisés Mayordomo [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Johannes Calvin 1509–2009. Würdigung aus Berner Perspektive.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2012. 304 S. Kart. EUR 36,80. ISBN 978-3-290-17610-5.

Rezensent:

Uwe Wolff

Der Schweizerische Evangelische Kirchenbund (SEK) ist ein Zu­sammenschluss der 24 reformierten Kantonalkirchen, der Evangelisch-methodistischen Kirche und der Église Évangélique Libre de Genève in der Schweiz. Als Präsident des Rates hat Gottfried Wilhelm Locher die EKD immer wieder ermahnt, das Reformationsjubiläum 2017 in nachkonfessionellem oder konfessionsübergreifendem Geist zu begehen. 2019 wird der Beginn von Huldrych Zwing­lis Wirken vor 500 Jahren gefeiert werden; bereits im Jahre 2009 wurde der Reformation Johannes Calvins gedacht. Die nun vorliegenden zwölf Beiträge zur Berner Ringvorlesung »Johannes Calvin« zeigen eindrucksvoll die weltweite Wirkung des Genfer Reforma tors. Neben Referaten über die klassischen Themen der Calvin­forschung (etwa: Wirtschaftsethik, Prädestination, Bergpredigt, Gender-Fragen) stechen besonders diese wirkungsgeschichtlichen As­pekte hervor.
Heinrich R. Schmidt spannt in »Die reformierten Kirchen in Europa« (25–52) einen weiten Bogen von den vier Ämtern der Predigt, der Lehre, der Diakonie und der Kirchenzucht in Genf bis zur Entwicklung der Kirchenordnung in den amerikanischen Kolonien. Der Fribourger Kirchenhistoriker Mariano Delgado zeigt »Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der katholischen und calvinistischen Weltmission der Frühen Neuzeit« (259–280). Während katholische Theologen wie Bartolomé de Las Casas OP, Juan Focher OFM oder José de Acosta SJ das Entdeckungszeitalter als Missionschance und -aufgabe begriffen, fehlte der Missionsgedanke im Protestantismus weitgehend bis zum Pietismus. Zwar hatte Calvin 14 seiner Anhänger nach Brasilien gesandt, ihre Missionsbemühungen waren aber nicht von Dauer. Delgado spricht von einer »katholischen Missionsdynamik« und einer »protestan­tischen Missionshemmung« (262), die erst im 17. Jh. überwunden wird als Holländer, Engländer, Dänen und Schweden Kolonien erwarben.
Die Puritaner griffen in Neu-England auf einen sich an der Bundestheologie des Alten Testaments orientierenden Erwählungsgedanken zurück, der »die autochthone Bevölkerung weitgehend aus dem Blickfeld« (279) verlor. Dagegen zielte die katholische Siedlungs- und Missionspolitik auf eine »Vermischung mit den missionierten Völkern« (280) nach dem Malinche-Prinzip. Malinche hieß die Dolmetscherin und Konkubine von Hernán Cortés.
Christine Lienemann-Perrin, emeritierte Professorin für Ökumene und Missionswissenschaften (Basel), dokumentiert die Wirkungsgeschichte des Calvinismus in Südafrika. Die Buren (Boers = Bauern), wie sich die holländischen Siedler nannten, begründeten aus dem calvinistischen Erwählungsgedanken ihre Politik der Apartheid. Im Namen einer befreiungstheologischen Deutung Calvins traten aber auch reformierte Theologen wie Allan Boesak oder Lekula Ntoane für die Verurteilung der Apartheid als Häresie ein. Auf einer dritten Rezeptionsebene, besonders vertreten durch Robert Vosloo, wird Calvins eigene Existenz als Flüchtling und Pfarrer einer Migrantengemeinde in Genf mit dem Schicksal mo­derner Flüchtlinge in Afrika korreliert. Calvins Prädestinations­lehre, so hatte schon Heiko Augustin Obermann behauptet, habe ihren »Sitz im Leben« in der Erfahrung der Verfolgung. Sie sei frohe Botschaft jenen, die um ihres Glaubens willen verfolgt werden.
So spannend sich diese Wirkungsgeschichte Calvins als Apart­heidverteidiger, -gegner und Leitfigur modernen Migrantenschicksals in Afrika liest, sie zeigt auch, dass man aus dem Werk eines jeden großen Geistes, heiße er nun Luther, Goethe oder Calvin, vieles herauslesen kann. Die Frage, was Johannes Calvin den Schweizern heute zu sagen hat, wagte niemand in der Berner Ringvorlesung zu stellen. Selbst die Kritik aus eigenen reformierten Reihen blieb ausgespart. So hatte der berühmte Zürcher reformierte Kirchenhistoriker Walter Nigg (1903–1988) im Jahr des großen Calvin-Jubliäums (1964) kritische Anmerkungen zu Calvins Leben und Werk gemacht. Maurice Baumann thematisiert in seinem Beitrag die Hinrichtung des Calvin-Gegners Michel Servert, aber er ist weit entfernt von Niggs pointierter Reaktion: »Der Scheiterhaufen von Champel ist ein erschütterndes Beispiel für die Tatsache, dass der blinde Theologismus fähig ist, mit kalter Grausamkeit einen Menschen auszuschalten.« Und mit Blick auf die viel gerühmte sittliche Ordnung des Lebens durch Calvin, schreibt Nigg anerkennend und doch zugleich ein Fragezeichen setzend von »jene[r] Ordnung, die wir heute nicht haben, aber die Freude, die religiöse Freude, die vollkommene Freude fand man nicht in Genf. […] Ehrlicherweise müssen wir gestehen, wir hätten uns alle im calvinistischen Genf nicht recht wohl gefühlt und wahrscheinlich wären wir unserer neuzeitlichen Ansichten wegen sogar gestäubt worden.«
In ihrem Vorwort betonen die Herausgeber zwar, dass die Urteile über Calvin äußerst kontrovers sind. Der Blick in die Gegenwart aber wird nicht gewagt. Das gilt nicht nur für die kirchliche Lage in der Schweiz, sondern auch für jene Länder Südamerikas oder Afrikas, wo rasch expandierende charismatische Kirchen den calvinis­tischen wie katholischen Gemeinden empfindliche Verluste an Mitgliedern zufügen. Von Südafrika aus betrachtet, werden die Re­formationsjubiläen in ein anderes Licht gerückt.