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Ausgabe:

Juli/August/2013

Spalte:

833–835

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Caronello, Giancarlo [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Erik Peterson. Die theologische Existenz eines Outsiders.

Verlag:

Berlin: Duncker & Humblot 2012. XXVIII, 652 S. m. Abb. Geb. EUR 98,00. ISBN 978-3-428-13766-4.

Rezensent:

Roger Mielke

Der hier zu besprechende Band entstand aus Anlass eines Symposions zum 50. Todestag von Erik Peterson am 26. Oktober 2010. Der Herausgeber Giancarlo Caronello, ein in Berlin lebender Privatgelehrter und seit Jahrzehnten für die italienische Rezeption Petersons engagiert, konnte eine größere Zahl von Gelehrten gewinnen, während dreier Tage am Patristischen Institutum Augustinianum in Rom dem Lebenswerk Erik Petersons und seiner Präsenz in theo­logischen Diskursen nachzudenken. Ausweis der hervorragenden Verbindungen des Herausgebers ist die Teilnahme Papst Be­nedikts XVI., dessen Ansprache zur Eröffnung der Tagung als ers­ter Beitrag des Bandes abgedruckt ist. Auch dies ist ein Zeichen für die »Wie­derentdeckung« Petersons, die durch Barbara Nichtweiß’ gewich­tige Monographie »Erik Peterson. Neue Sicht auf Leben und Werk« aus dem Jahr 1992 eingeleitet wurde. Die im gleichen Jahr be­gonnene und auf nun elf Bände angewachsene Ausgabe der »Ausgewählten Schriften« belegt das andauernde Interesse an Peterson.
Obwohl sich das Andenken an Peterson also päpstlicher Förderung erfreut, wird Peterson im Titel des hier vorliegenden Bandes als »Outsider« bezeichnet. Außenseiter war und blieb Peterson als Konvertit. Eine eigentümliche Spannung zwischen evangelischer Herkunftskirche und der neuen Zugehörigkeit zur römisch-katholischen Kirche durchzieht Leben und Werk. Das Vorwort von Christoph Markschies und die o. a. päpstliche Ansprache messen den Raum dieser Spannung aus und eröffnen zwei unterschiedliche, sich spiegelbildlich entsprechende Perspektiven der Peterson-Lektüre. Der evangelische Theologe Markschies liest Peterson als Exponenten einer theologischen Spielart des literarischen Expressionismus der 1920er Jahre, in welchem sich apokalyptische Eschatologie und forcierte Dogmatik zur Gestalt einer »Fremdlingsexis­tenz« am Rande von Kirche und Wissenschaftsbetrieb amalgamierten. Der katholische Theologe Ratzinger konzediert dagegen wohl, dass Peterson »auch in der katholischen Theologie, wie sie damals war, irgendwie Fremdling geblieben« (XXVII) ist, deutet Petersons Werk der 1920er Jahre aber so, dass dieser »den Weg in die Konversion gefunden« habe, weil »das ›sola scriptura‹ nicht funktioniert«.
Die konfessionellen Lektüren Petersons changieren auf diesen Übergängen der Skala zwischen einer (eher protestantischen) de­konstruktiven und einer (eher römisch-katholischen) affirmativen Lesart – so auch die Beiträge des vorliegenden Bandes. Der Herausgeber selbst weist in die Strittigkeit der Peterson-Lektüren ein, wenn er folgende leitende Fragestellungen für Gegenstandsbestimmung und Gliederung der Beiträge nennt: zum einen die »Beziehung von Theologie und Dogma, von Offenbarung […] und Kirche« und zum anderen »die Verzahnung von theologischer Ar­beit und theologischer Existenz«.
Der umfangreiche Band bindet eine Fülle von Beiträgen zusammen: Neben Vorwort und Geleitwort finden wir 29 Einzelbeiträge und zwei unveröffentlichte Texte Petersons. Die Beiträge sind in sechs thematische Kapitel gegliedert: I. Erik Peterson, ein Outsider?; II. Theologie, Dogma und Kirche; III. Theologie, Schrift und Tradition; IV. Frühkirche, Judentum und Gnosis; V. Liturgische Theologie und Liturgiegeschichte; VI. Zur Frage der politischen Theologie.
In Argumentationsstruktur und Niveau sind die Beiträge äußerst heterogen. An einigen Stellen werden in antiquarischer Manier biographische Details ausgebreitet, andere Beiträge behandeln in wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive und fachbezogener Spezifik die Bedeutung Petersons für Exegese, Patristik und Religionsgeschichte der Antike. Die Quintessenz der meisten Beiträge dieser Art scheint zu sein, dass Peterson als wichtiger Anreger zu gelten hat, seine Positionen allerdings in den meisten Sachfragen der betreffenden Fächer überholt sind und sein Name aus den Registern zu verschwinden beginnt. Von allgemeinerem Interesse sind die Beiträge, in denen mit Peterson in aktuellen Debatten weitergedacht wird. Und dort kann man wohl berechtigterweise von einer »Wiederentdeckung« sprechen: Dies gilt für die Ekklesiologie, die Liturgiewissenschaft und, am prominentesten, für ak­tuelle Diskurse, die den »Begriff des Politischen« zum Gegenstand haben – weit über das engere Feld der Theologie hinaus. Auf einzelne Beiträge dieser Art ist eigens hinzuweisen.
Kardinal Lehmann würdigt in seinem Beitrag (Erik Peterson, ein Theologe von gestern für die Kirche von morgen, 21–33) die ökumenische Bedeutung Petersons, der eine zentrifugalen Kräften erliegende Theologie jenseits konfessioneller Engführungen »in eine radikale theologische Mitte« hineinführe, die Lehmann als »Bemühung um das Wesen von Offenbarung, Schrift und Überlieferung, Kirche, Liturgie und Recht« beschreibt. Was Lehmann hier quer zu affirmativ-konfessioneller oder dekonstruktiv-konfessioneller Peterson-Lektüre mehr en gros einfordert, beschreibt Barbara Nichtweiß (Das Neue durch den Abbruch hindurch schauen. Vier Miniaturen zur Einführung in das Denken Petersons, 53–86), die gegenwärtig wohl beste Peterson-Kennerin, en détail in »Miniaturen«, kenntnisreichen Mikro-Lektüren von kurzen Peterson-Texten zu Eschatologie, Dogma, Mystik und Zeitkonstruktionen. In diesen Miniaturen beginnt die besondere polemisch-kritische Kraft der Texte des »großen Stilisten« (Taubes) Peterson zu leuchten. Petersons Polemik wollte, bei aller vor allem gegen den liberalen Protestantismus gerichteten kritischen Kraft, im­mer konstruktiv auf die »Schau« (63) des von Gott her zukommenden Neuen bezogen sein. Der glänzende Text des Harnack-Forschers Christian Nottmeier (Evangelische Kirche zwischen Geistesfreiheit, Biblizismus und Rekatholisierung. Adolf von Harnack und Erik Peterson, 129–152, angehängt sind sechs neu entdeckte Briefe von Peterson an Harnack, 153–159) führt in eindrücklicher Manier vor Augen, gegen welches Gewicht an Gelehrsamkeit und auch religionskultureller Prägekraft Peterson in seiner Debatte mit Adolf von Harnack anzugehen sich vorgenommen hatte.
In der Abteilung der Beiträge zum exegetischen Werk Petersons zeichnet Thomas Söding ein Bild von Peterson als »Ausnahme-Exeget« (185–210), der die Bibel mit inkarnationstheologisch zugespitzter Hermeneutik bewusst im Kontext der Kirche auslegen wollte, ohne der biblizis­tischen Versuchung zu erliegen. Ulrich Weidemann pointiert in einem zentralen Beitrag des Bandes (»Paulus an die Ekklesia Gottes, die in Korinth ist«. Der Kirchenbegriff in Petersons Auslegung des ersten Korintherbriefes, 259–296) den Kirchenbegriff Petersons am Leitfaden der Vorlesung zum 1Kor. Die Verwendung des politisch-staatsrechtlichen Begriffes der »Ekklesia« zur Selbstbezeichnung der frühen Christen mache deutlich, dass mit dem Evangelium von der Thronbesteigung Christi ein ganz eigentümlicher quasipoli­tischer Öffentlichkeitsanspruch verbunden gewesen sei. »Ekklesia« sei nicht ein privatrechtlich ver fasster »Verein«, sondern »die rechtlich einberufene Vollversammlung der Bürger der Himmelsstadt auf Erden« (276). Besonderer Bedeutung komme in diesem Zusammenhang der Kyrios-Akklamation der Ekklesia zu, die als pneumatisch inspirierter Ruf (1Kor 12,3) die gleichsam ekstatische Relation der Ekklesia auf den erhöhten Herren performativ zur Darstellung bringe.
Im liturgietheologischen Abschnitt des Bandes beschreibt Michael Meyer-Blanck (»Versunken in die himmlische Schau« Petersons liturgische Theologie in der Bonner Zeit [1924–1929], 439–457) den Ansatz der Theologie Petersons insgesamt als eine »Form von liturgischer Theologie«, die auch ihre dogmatischen Zuspitzungen aus dem liturgischen Geschehen beziehe. Meyer-Blanck weist darauf hin, wie sehr sich der Ansatz Petersons mit den etwa gleichzeitigen Arbeiten der Berneuchener im evangelischen Bereich berührt und wie diese Motive später in der Liturgietheologie Peter Brunners wiederkehren. Für den Rezensenten wäre ein noch einzulösendes ökumenisches Desiderat der Forschung, Petersons Gedanken in Beziehung zu analog apokalyptisch formatierten theologischen Entwürfen aus der Tradition des deutschen »Kirchenkampfes« zu setzen (Peter Brunner, und z. B. Alfred de Quervain, für Heinrich Schlier hat R. v. Bendemann dazu Wesentliches erarbeitet).
Der den Sammelband abschließende thematische Abschnitt »VI. Zur Frage der politischen Theologie« darf besonderes Interesse hervorrufen, weil hier, wie angedeutet, Peterson in besonderem Maße in gegenwärtigen Diskursen argumentativ präsent ist. Michele Nicoletti widmet seinen Beitrag der viel diskutierten und hoch umstrittenen Frage nach der Beziehung zwischen Peterson und Carl Schmitt (»Erik Peterson und Carl Schmitt: Wiederaufnahme einer Debatte, 557–580). Nicoletti erkennt zutreffend, wie der aus dem Evangelium von der Thronbesteigung Christi gewonnene Begriff des Politischen bei Peterson zu unterbestimmt bleibt, um nach den Erfahrungen des Totalitarismus die nunmehr drohende Totalisierung der »Gesellschaft« zu hinterfragen. Peterson entwickele keinen positiven Begriff des Politischen. Schmitt dagegen affirmiere das Politische, ohne sich den Gefährdungen der Selbsttotalisierung des Politischen zu stellen.
Höhepunkt des Sammelbandes ist nach dem Urteil des Rezensenten der Beitrag des Jerusalemer Germanisten Christoph Schmidt (Die Rückkehr des Katechons. Giorgia Agamben contra Erik Peterson, 609–632). Die ausgesprochen idiosynkratischen Peterson-Lektüren Agambens hatten in den vergangenen Jahren Konjunktur im Umfeld der »Neuen Philosophien des Politischen«, die immer auch mit einer linken Schmitt-Lektüre verbunden waren. Agamben wende, so Schmidts Analyse, Petersons These von der »Unmöglichkeit einer jeden politischen Theologie« auf diese These selbst an und versuche in trinitarischer theologia und oikonomia Spuren der »faschistische(n) Inklination« (616) bei Peterson zu identifizieren. Am Grunde des Einspruchs Petersons gegen Schmitt liege eine politische Imagination die ihrerseits der »Liturgie des Totalitarismus« (zit. Agamben, a. a. O., 617) gefährlich nahe sei. Schmidt deutet diese Konstruktion Agambens in überzeugender Weise als einen ästhetizistischen Messianismus, der auf eine anthropolo­gische Theorie der »Deaktivierung« hinauslaufe. Agamben werfe Peterson vor, die Verankerung der totalitären Regierungsmaschine des Faschismus in der theologischen Konstruktion göttlicher Souveränität zu maskieren, lande aber selbst nur bei einer »ästhetischen Selbstverherrlichung des Subjekts«, welche die vitalistischen Philosopheme wieder belebe, gegen die sich Peterson schon in den 1920er Jahren in Position gebracht habe.
So wohltuend sich die metakri­tische Lektüre von Agambens kritischer Peterson-Auslegung ausnimmt, bleibt doch die Frage, ob Schmidt nicht einen politisch-theologischen Kern in Agambens Argumentation verkennt. Konstruiert Peterson nicht selbst den Widerspruch gegen die Selbsttotalisierung des Politischen in Kategorien der Totalisierung, die dem neuzeitlichen »Machtparadigma« des Politischen entlehnt sind, die daher theologisch noch einmal zu dekonstruieren wären? Trotz dieser kritischen Anmerkung ist Schmidts Beitrag im Urteil des Rezensenten ein Beispiel dafür, welche Potentiale darin liegen, Peterson weiterzudenken unter den Bedingungen der politischen Pluralität. In der angelsächsischen Theologie verfolgen etwa Oliver O’Donovan und die Theologen der Radical Orthodoxy-Schule die Motive Petersons auf eindrückliche Weise.
Abschließend möchte der Rezensent die hochwertige Ausstattung des Bandes loben, dem ein umfangreiches Personenregister (aber leider kein Begriffsregister) beigegeben ist. Ein ärgerlicher Satzfehler hat wohl dazu geführt, dass die Fußnoten vielfach verschoben sind, so dass der betreffende Verweis erst auf der jeweils nächsten Seite zu finden ist. Insgesamt aber bietet der Band aufschlussreiche Perspektiven und reichhaltiges Material für weitere Forschungsarbeit zu Peterson.